Gesetz, die Wahlen für den Reichstag des Norddeutschen Bundes betreffend

vom 11. Dezember 1866

Das Wahlgesetz wurde durch die 22 Staaten des Norddeutschen Bundes, darunter auch Sachsen, Hessen-Darmstadt (für Oberhessen) und Reuß ältere Linie als Gegner Preußens im Krieg von 1866 (teilweise unter dem Druck der Friedensbedingungen) vereinbart, weshalb es auch 22 Verkündungen in den einzelnen Gesetz- und Regierungsblätter der norddeutschen Staaten gab.

die meisten der 22 Staaten des Norddeutschen Bundes haben eine andere Fassung des Gesetzes in ihren Gesetzsammlungen veröffentlicht, ohne allerdings faktisch dabei wesentliche Unterschiede:
hier die meistverwendete Fassung
 

Wir Ernst, Herzog zu Sachsen, Coburg und Gotha, Jülich, Cleve und Berg, ach Engern und Westphalen, Landgraf in Thüringen, Markgraf zu Meißen, gefürsteter Graf zu Henneberg, Graf zu der Mark und Ravensberg, Herr zu Ravenstein und Tonna ec.

haben beschlossen und verordnen mit Zustimmung des gemeinschaftlichen Landtags der Herzogthümer Coburg und Gotha im Betreff der Wahl von Abgeordneten aus diesen Herzogthümern für den Reichstag zur Berathung der Verfassung und der Einrichtungen des Norddeutschen Bundes, auf Grund und in Ausführung des unterm 26. October d. J. publicirten Bündnißvertrages, was folgt:

§ 1. Die Wahl der Reichstagsabgeordneten erfolgt nach den Bestimmungen des Reichsgesetzes vom 12. April 1849 über die Wahlen der Abgeordneten zu dem damals beabsichtigten Deutschen Volkshause (Coburger Gesetzsammlung Nr. 84 - Gothaische Gesetzsammlung Nr. 344) unter folgenden Änderungen und näheren Bestimmungen:

§ 2. An sie Stelle des § 1 des im vorigen Paragraph erwähnten Gesetzes tritt folgende Bestimmung:
"Wähler ist jeder unbescholtene Staatsbürger eines der zum Bunde zusammentretenden deutschen Staaten, welcher das fünf und zwanzigste Lebensjahr zurückgelegt hat.

§ 3. An die Stelle des § 3 des Gesetzes tritt folgende Bestimmung:
"Als bescholten, also von der Berechtigung zum Wählen ausgeschlossen, sollen angesehen werden:
    Personen, denen durch rechtskräftiges Erkenntniß der Vollgenuß der staatsbürgerlichen Rechte entzogen ist, sofern sie in diese Rechte nicht wieder eingesetzt worden sind."

§ 4. An die Stelle des § 5 des Gesetzes tritt folgende Bestimmung:
"Wählbar zum Abgeordneten ist jeder Wahlberechtigte, der einem zum Bunde gehörigen Staate seit mindestens drei Jahren angehört hat.
Verbüßte oder durch Begnadigung erlassene Strafen wegen politischer Verbrechen schließen von der Wahl nicht aus."

§ 5. An die Stelle der §§ 7-9 des Gesetzes tritt folgende Bestimmung:
"die Herzogthümer Coburg und Gotha bilden je nach ihrer geographischen Begrenzung zwei Wahlkreise, für jeden wird ein Abgeordneter zum Reichstag gewählt."

§ 6. In jedem Wahlkreis werden die Wahlbezirke durch die Bezirke der Herzoglichen Justizämter resp. den Bezirk des Stadtgerichts zu Gotha gebildet.

§ 7. In jedem Wahlbezirk werden die Functionen der Wahldirectoren (§ 17 des Gesetzes durch die Vorstände der im § 6 gedachten Behörden verrichtet.

§ 8. Die Bewohner solcher Orte, Güter oder sonstigen Besitzungen, welche keine Gemeinde bilden, werden zum Zwecke der gegenwärtigen Wahl
    im Herzogthum Coburg derjenigen Gemeinde, mit welcher sie zum Behuf der Landtagswahlen nach Beilage I. A. zum Staatsgrundgesetz verbunden sind -
    im Herzogthum Gotha derjenigen Gemeinden, zu deren Heimathsbezirk sie gehören,
zugewiesen.

§ 9. Die Wahldirectoren haben dahin Verfügung zu treffen, daß die bereits durch Decret vom 19. Juli d. J. vorläufig angeordnete Herstellung der WAhllisten in jeder Gemeinde des Wahlbezirks mit thunlicher Beschleunigung erfolge, ingleicehn, daß die auf Grund jenes Decrets bereits hergestellte Wahllisten nach Maßgabe des vorliegenden Gesetzes revidirte und berichtigte, hierauf aber die Wahllisten acht Tage lag, in den Städten auf dem Rathhause, in den Landorten bei dem Ortsschultheiß zu Jedermanns Einsicht ausgelegt - und, daß solches geschehen, vom Gemeindeovstand in ortsüblicher Weise bekannt gemacht werde.

Die Wahldirectoren haben sodann die Einsprachen gegen die Listen (§ 12 Alinea 2 des Gesetzes), welche bei dem betreffenden Gemeindevorstande zeitig angebracht sind, binnen der vorschriftsmäßigen Frist zu erledigen. Eine Berufung gegen die desfallsige Entscheidung des Wahldirecotrs findet nicht Statt.

Nach Ablauf der Auslegungsfirst, beziehentlich nach Erledigung der Einsprachen, haben die Wahldirectoren die Listen durch eine auf dieselben zu setzende Bemerkung für geschlossen zu erklären. In dieser Bemerkung ist zugleich zu erwähnen, daß und an welchen Tagen die Liste öffentlich ausgelegt gewesen ist.

§ 10. Die Ausschreibung der Wahl sowie die Bekanntmachung des Tages der Wahlhandlung erfolgt vom Herzoglichen Staatsministerium. Der deßfallsige Erlaß wird in den Regierungsblättern beider Herzogthümer veröffentlicht werden.

§ 11. Der Ort der Wahlhandlung und die Anfangsstunde derselben werden in jedem einzelnen Wahlbezirk von dem Wahldirecotr nach Gründen der Zweckmäßigkeit bestimmt. Sofern solche Gründe dafür sprechen, kann ein Wahlbezirk in angemessene Theile zerlegt und in jedem dieser Theile ein besonderer Ort zur gleichzeitigen Vornahme der Wahlhandlung bestimmt werden. In solchem Falle hat der Wahldirector die von ihm nicht persönlich geleiteten Wahlen durch von ihm beauftragte Justizamts- oder Gemeindebeamte leiten zu lassen.

§ 12. Der Wahldirektor hat die Ladung der Wähler zur Wahlhandlung zu erlassen, diese Ladung ist in jeder Gemeinde des Wahlbezirks in ortsüblicher Weise bekannt zu machen.

§ 13. An die Stelle des § 13 des Gesetzes treten folgende Bestimmungen:
"Die Wahl ist direkt.
Die Wahlhandlung ist öffentlich.
Der die Wahl leitende Beamte (vergl. oben § 11) hat bei derselben aus jeder Gemeinde des Wahlbezirks resp. des dem nämlichen Wahlorte zugewiesenen Theils desselben ein Gemeindemitglied, welches kein unmittelbares Staatsamt bekleidet, zur Unterstützung und Auskunftsertheilung zuzuziehen.
Das Protocoll über die Wahlhandlung ist entweder von dem die Wahl leitenden beamten oder je, nach dessen Bestimmung, von einem der zugezogenen Gemeindemitglieder zu führen.
Das Wahlrecht wird in Person durch Stimmzettel ohne Unterschrift ausgeübt."

§ 14. Die Wahlhandlung beginnt zur festgesetzten Stunde ohne Rücksicht darauf, wie viel Wähler sich eingefunden haben.

§ 15. Wenn die Räumlichkeit, in welcher die Wahlhandlung vorgenommen werden soll, nicht groß genug ist, um sämmtliche Wähler auf einmal aufzunehmen, so sind dieselben nach einander in angemessener Anzahl einzulassen.

§ 16. Jedem der anwesenden Wähler wird, wenn seine Wahlberechtigung unbestritten ist, ein auf der Rückseite gestempelter und mit der fortlaufenden Nummer versehener Stimmzettel eingehändigt, in welchen er den Namen des von ihm zum Abgeordneten Erwählten deutlich und mit hinreichender Bezeichnung der Person alsbald im Wahlzimmer selbst einzutragen hat. Hierauf gibt er den Stimmzettel dem die Wahl leitenden Beamten zurück, welcher letzteren, nachdem er sich von dem Vorhandensein des Stempels überzeugt hat, in ein vor ihm stehendes Gefäß niederlegt.

§ 17. Der Name des einzelnen Wählers wird, wenn letzterer den empfangenen Stimmzettel zurückgegeben hat, in der Wahlliste vorgestrichen.

§ 18. Wenn mindestens sechs Stunden nach der bekannt gemachten Anfangszeit der Wahlhandlung verflossen sind, sodann aber auf Anfrage niemand mehr zur Stimmgebung sich meldet, so ist die Verhandlung von dem die Wahl leitenden beamten für geschlossen zu erklären und weiter keine Stimmgebung zulässig.

§ 19. Hierauf werden die Stimmzettel auf den Tisch ausgeschüttet, gezählt und, wenn ihre Zahl mit der Zahl der Wähler übereinstimmt, geöffnet, worauf der laut verlesene Inhalt eines jeden Zettels alsbald in der Weise zu Protocoll genommen wird, daß bei dem Vorgeschlagenen die Nummern der auf denselben lautenden Stimmzettel angemerkt werden.

Stimmzettel, welche unleserlich geschrieben sind, oder die Person des Vorgeschlagenen nicht hinlänglich bezeichnen, werden zwar gezählt, aber ihrem Inhalte nach nicht berücksichtigt, es sei denn, daß auf Erfordern der als Schreiber eines solchen zettels sich Meldende und sofort Ausweisende durch mündliche Erklärung zu Protocoll diesen Mangel beseitigt. Abänderungen der bereits zurückgebenen Stimmzettel sind unzulässig.

§ 20. Eine Abweichung der Zahl der Stimmzettel von der Zahl der Wählenden (§ 14) macht eine Wiederholung der Abstimmung blos dann nöthig, wenn die Mehrheit der anwesenden Wähler es verlangt.

§ 21. Die Wahlversammlung darf die abgegebenen Stimmzettel durch drei Wahlberechtigte einsehen lassen.

§ 22. Die ganze Verhandlung einschließlich der Verlesung des Protocolls wird in gegenwart der anwesenden Wähler vorgenommen, auch ist denselben das Ergebniß alsbald bekannt zu machen.

Sobald etwaige Ausstellungen am Protocoll beseitigt sind, werden die Wahlzettel, mit Ausnahme der beanstandeten, im Beisein der zurückgebliebenen Wähler vernichtet.

§ 23. An die Stelle des § 14 treten folgende Bestimmungen:
"Die Wahl erfolgt durch absolute Stimmenmehrheit aller in einem Wahlkreise abgegebenen Stimmen.
    Stellt bei einer Wahl eine absolute Stimmenmehrheit sich nicht heraus, so ist eine zweite Wahlhandlung vorzunehmen, hierbei aber nur unter den zwei Candidaten zu wählen, welche die meisten Stimmen erhalten haben.
    Bei Stimmengleichheit entscheidet das Loos."

§ 24. Nach beendigter Wahlhandlung sind von den Wahldirectoren die Wahlacten ungesäumt dem Herzogl. Staatsministerium zu Gotha vorzulegen, welches die Gesetzmäßigkeit der Wahlen prüfen, nöthigenfalls zur Beseitigung vorgekommener Gesetzwidrigkeiten  sowie auch zu der etwa erforderlichen Vornahme einer wiederholten Wahlhandlung das Geeigente verfügen und schließlich die Namen der gewählten Abgeordneten bekannt machen wird.

§ 25. An die Stelle des § 16 tritt folgende Bestimmung:
"Die Wahlen sind in beiden Wahlkreisen zu derselben Zeit vorzunehmen."

§ 26. Der Reichstag prüft die Vollmachten seiner Mitglieder und entscheidet über deren Zulassung.

Er regelt seine Geschäftsordnung und Disciplin.

§ 27. Kein Mitglied des Reichstages darf zu irgend einer Zeit wegen seiner Abstimmung oder wegen der in Ausübung seines Berufes gethanen Äußerungen gerichtlich oder disziplinarisch verfolgt oder sonst außerhalb der Versammlung zur Verantwortung gezogen werden.

    Urkundlich unter Unserer eigenhändigen Unterschrift und dem vorgedruckten Herzoglichen Insiegel.

    Gotha, den 11. Dezember 1866

Ernst, H. zu. S. C. u. G.

von Seebach.
 


Die Wahlen wurden am 12. Februar (Hauptwahl, erster Wahlgang) durchgeführt und die Stichwahlen wurden in den einzelnen Ländern zu unterschiedlichen Zeiten durchgeführt.
Klare Gewinner waren die Nationalliberalen sowie die Liberalen, welche die nationale Einigungspolitik Bismarcks unterstützten.

Die erste Sitzung des Reichstags, der zwar verfassunggebend war, aber offiziell einfach nur "Reichstag des Norddeutschen Bundes" hieß, fand auf Einberufung des Königs von Preußen "nach Übereinkunft mit den verbündeten Regierungen der Norddeutschen Staaten" am 24. Februar 1867 statt, der Beschluss über die Annahme der Verfassung wurde am 16. April 1867 gefaßt und die Schlusssitzung war am 17. April 1867. Mit dieser war der verfassunggebende Reichstag auch aufgelöst.

Die Protokolle der Reichstagssitzungen sind veröffentlicht bei http://www.reichstagsprotokolle.de/rtbiauf.html. Hier sind in den Anlagen auch die entsprechenden Entwürfe für eine Verfassung des Norddeutschen Bundes (ursprünglicher Entwurf, Verfassung nach den Beschlüssen des Reichstags)  zu finden.

Der erste verfassungsmäßige Reichstag des norddeutschen Bundes wurde nach vorstehendem Gesetz am 31. August 1867 (Hauptwahl, erster Wahlgang) gewählt  und trat am 10. September 1867 zu seiner ersten Sitzung zusammen.
 


Quelle: Gemeinschaftliche Gesetzsammlung für die Herzogthümer Coburg und Gotha Nr. 173
© 26. August 2011 - 28. August 1866

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