Kontrollratsgesetz Nr. 10
Bestrafung von Personen, die sich Kriegsverbrechen,
Verbrechen gegen den Frieden oder gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht
haben.
vom 20. Dezember 1945
in Kraft getreten am 24. Dezember 1945
für die Bundesrepublik Deutschland geändert durch
Artikel 2 des Gesetzes Nr. A-37 der Alliierten Hohen Kommission vom 5. Mai 1955
(ABl. AHK S. 3267)
und aufgehoben durch
Erstes Gesetz zur Aufhebung des Besatzungsrechts vom 30. Mai 1956 (BGBl. I. S.
437),
jedoch ohne der Aufhebung der bisherigen
Rechtsauswirkungen des Gesetzes
für die DDR außer Wirkung gesetzt
durch
Beschluß des Ministerrats der UdSSR über die Auflösung der Hohen Kommission der
Sowjetunion in Deutschland vom 20. September 1955
lm die Bestimmungen der Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 und des Londoner Abkommens vom 8. August 1945, sowie des im Anschluß daran erlassenen Grundgesetzes zur Ausführung zu bringen, und um in Deutschland eine einheitliche Rechtsgrundlage zu schaffen, welche die Strafverfolgung von Kriegsverbrechern und anderen Missetätern dieser Art - mit Ausnahme derer, die von dem Internationalen Militärgerichtshof abgeurteilt werden, - ermöglicht, erläßt der Kontrollrat das folgende Gesetz:
Artikel I. Die Moskauer Deklaration vom 30. Oktober 1943 "betreffend die Verantwortlichkeit der Hitleranhänger für begangene Greueltaten" und das Londoner Abkommen vom 8. August 1945 "betreffend Verfolgung und Bestrafung von Hauptkriegs der Europäischen Achse" werden als untrennbare Bestandteile in das gegenwärtige aufgenommen. Die Tatsache, daß eine der Vereinten Nationen den Bestimmungen des Londoner Abkommens beitritt, wie dies in seinem Artikel V vorgesehen ist, berechtigt diese Nation nicht, an der Ausführung des gegenwärtigen Gesetzes in dem Hoheitsgebiet des Kontrollrates in Deutschland teilzunehmen oder in seinen Vollzug einzugreifen.
Artikel II. 1. Jeder der folgenden Tatbestände
stellt ein Verbrechen dar:
a) Verbrechen gegen den Frieden. Das Unternehmen des Einfalls in andere
Länder und des Angriffskrieges unter Verletzung des Völkerrechts und
internationaler Verträge einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand
jedoch nicht erschöpfenden Beispiele: Planung, Vorbereitung, Beginn oder Führung
eines Angriffskrieges oder eines Krieges unter Verletzung von internationalen
Verträgen, Abkommen oder Zusicherungen; Teilnahme an einem gemeinsamen Plan oder
einer Verschwörung zum Zwecke der Ausführung eines der vorstehend aufgeführten
Verbrechen.
b) Kriegsverbrechen. Gewalttaten oder Vergehen gegen Leib, Leben oder
Eigentum, begangen unter Verletzung der Kriegsgesetze oder -gebräuche,
einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden
Beispiele: Mord, Mißhandlung der Zivilbevölkerung der besetzten Gebiete oder
ihre Verschleppung zur Zwangsarbeit oder zu anderen Zwecken; Mord oder
Mißhandlung von Kriegsgefangenen oder Personen auf hoher See; Tötung von
Geiseln; Plünderung von öffentlichem oder privatem Eigentum; mutwillige
Zerstörung von Stadt oder Land oder Verwüstungen die nicht durch militärische
Notwendigkeit gerechtfertigt sind.
c) Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Gewalttaten und Vergehen,
einschließlich der folgenden den obigen Tatbestand jedoch nicht erschöpfenden
Beispiele: Mord, Ausrottung, Versklavung; Zwangsverschleppung,
Freiheitsberaubung, Folterung, Vergewaltigung oder andere an der
Zivilbevölkerung begangene unmenschliche Handlungen; Verfolgung aus politischen,
rassischen oder religiösen Gründen, ohne Rücksicht darauf, ob sie das nationale
Recht des Landes, in welchem die Handlung begangen worden ist, verletzen.
d) Zugehörigkeit zu gewissen Kategorien von Verbrechervereinigungen oder
Organisationen, deren verbrecherischer Charakter vom Internationalen
Militärgerichtshof festgestellt worden ist.
2. Ohne Rücksicht auf seine Staatsangehörigkeit oder die
Eigenschaft, in der er handelte, wird eines Verbrechens nach Maßgabe von Ziffer
1 dieses Artikels für schuldig erachtet, wer
a) als Täter oder
b) als Beihelfer bei der Begehung eines solchen Verbrechens mitgewirkt oder es
befohlen oder begünstigt oder
c} durch seine Zustimmung daran teilgenommen hat oder
d) mit seiner Planung oder Ausführung in Zusammenhang gestanden hat oder
e) einer Organisation oder Vereinigung angehört hat, die mit seiner Ausführung
in Zusammenhang stand, oder
f) soweit Ziffer 1 a) in Betracht kommt, wer in Deutschland oder in einem mit
Deutschland verbündeten, an seiner Seite kämpfenden oder Deutschland
Gefolgschaft leistenden Lande eine gehobene politische; staatliche oder
militärische Stellung (einschließlich einer Stellung im Generalstab) oder eine
solche im finanziellen, industriellen oder wirtschaftlichen Leben innegehabt
hat.
3. Wer eines der vorstehend aufgeführten Verbrechen für
schuldig befunden und deswegen verurteilt worden ist, kann mit der Strafe belegt
werden, die das Gericht als angemessen bestimmt. Die folgenden Strafen können -
allein oder nebeneinander - verhängt w erden:
a) Tod,
b) lebenslängliche oder zeitlich begrenzte Freiheitsstrafe mit oder ohne
Zwangsarbeit,
c) Geldstrafe und im Falle ihrer Uneinbringlichkeit, Freiheitsstrafe mit oder
ohne Zwangsarbeit,
d) Vermögenseinziehung,
e) Rückgabe unrechtmäßig erworbenen Vermögens,
f) völliger oder teilweiser Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte.
Vermögen, dessen Einziehung oder Rückgabe von dem Gericht angeordnet worden Ist, wird dem Kontrollrat für Deutschland zwecks weiterer Verfügung ausgehändigt.
4. a) Die Tatsache, daß jemand eine amtliche Stellung
eingenommen hat, sei es die eines Staatsoberhauptes oder eines verantwortlichen
Regierungsbeamten, befreit ihn nicht von der Verantwortlichkeit für ein
Verbrechen und ist kein Strafmilderungsgrund
b) Die Tatsache, daß jemand unter dem Befehl seiner Regierung oder seines
Vorgesetzten gehandelt hat, befreit ihn nicht von der Verantwortlichkeit für ein
Verbrechen; sie kann aber als strafmildernd berücksichtigt werden.
5. In einem Strafverfahren oder einer Verhandlung wegen eines der vorbezeichneten Verbrechen kann sich der Angeklagte nicht auf Verjährung berufen, soweit die Zeitspanne vom 30. Januar 1933 bis zum 1. Juli 1945 in Frage kommt. Ebensowenig sieht eine vom Naziregime gewährte Immunität, Begnadigung oder Amnestie der Aburteilung oder Bestrafung im Wege.
Artikel III. 1. Die Besatzungsbehörden sind
berechtigt, innerhalb ihrer Besatzungszonen die folgenden Maßnahmen zu treffen:
a) Wer sich innerhalb der Zone befindet und der Begehung eines Verbrechens
verdächtig ist, einschließlich derjenigen Personen, die eines Verbrechens
seitens einer der Vereinigten Nationen beschuldigt werden, kann verhaftet
werden; das in seinem Eigentum stehende oder seiner Verfügungsmacht
unterliegende bewegliche und unbewegliche Vermögen soll unter Aufsicht gestellt
bis darüber endgültig verfügt wird.
b) Dem Justizdirektorium sollen die Namen aller Personen, die eines Verbrechens
verdächtig sind, die Gründe und der Ort der Inhaftnahme, sowie die Namen und
Aufenthaltsorte der Zeugen mitgeteilt werden.
c) Geeignete Maßnahmen sollen getroffen werden, damit Zeugen und Beweismittel im
Bedarfsfalle verfügbar sind.
d) Die Besatzungsbehörden sind berechtigt, die in Halt genommenen und unter
Anklage gestellten Personen zur Verhandlung vor ein dafür geeignetes Gericht zu
bringen, soweit nicht ihre Auslieferung an eine andere Behörde nach Maßgabe
dieses Gesetzes oder ihre Freilassung erfolgt ist. Für die Aburteilung von
Verbrechen, die deutsche Staatsbürger oder Staatsangehörige gegen andere
deutsche 5laatsbürger oder Staatsangehörige oder gegen Staatenlose begangen
haben, können die Besatzungsbehörden deutsche Gerichte für zuständig erklären.
2. Die Zonenbefehlshaber bestimmen oder bezeichnen für ihre Zonen das Gericht, vor dem die eines Verbrechens unter dem gegenwärtigen Gesetz beschuldigten Personen abgeurteilt werden sollen, sowie die dabei anzuwendende Verfahrensordnung Die Bestimmungen des gegenwärtigen Gesetzes sollen jedoch in keiner Weise die Zuständigkeit oder Autorität irgendeines von den Zonenbefehlshabern in ihren Zonen bereits errichteten oder in Zukunft zu errichtenden Gerichtshofs beeinträchtigen oder beschränken; das gleiche gilt hinsichtlich des auf Grund des Londoner Abkommens vom 8. August 1945 ins Leben gerufenen Internationalen Militärgerichtshofes.
3. Wer zur Aburteilung vor einem Internationalen Militärgerichtshof benötigt wird, kann nur mit Zustimmung des Ausschusses der Hauptankläger abgeurteilt werden. Auf Verlangen soll der Zonenbefehlshaber eine solche Person, die sich innerhalb seiner Zone befindet, diesem Ausschuß überantworten und ihm Zeugen und Beweismittel zugängig machen.
4. Ist es bekannt, daß jemand zur Aburteilung in einer anderen Zone oder außerhalb Deutschlands benötigt wird, so kann er nicht abgeurteilt werden, bevor eine Entscheidung gemäß Artikel IV dieses Gesetzes ergangen ist, es sei denn, daß von der Tatsache seiner Ergreifung gemäß Ziffer 1 b) dieses Artikels Mitteilung gemacht wurde, eine Frist von drei Monaten seit dieser Mitteilung verstrichen und kein Auslieferungsbegehren nach Maßgabe des Artikels IV bei dem betreffenden Zonenbefehlshaber eingegangen ist.
5. Die Vollziehung der Todesstrafe soll aufgeschoben werden, falls der Zonenbefehlshaber Grund zu der Annahme hat, daß die Vernehmung des zum Tode Verurteilten als Zeuge in einem Verfahren innerhalb oder außerhalb seiner Zone von Wert sein könnte, jedoch nicht länger als einen Monat, nachdem das Urteil Rechtskraft erlangt hat.
6. Jeder Zonenbefehlshaber wird dafür Sorge tragen, daß die Urteile der zuständigen Gerichte hinsichtlich des nach diesem Gesetz seiner Kontrolle unterliegenden Vermögens so ausgeführt werden, wie dies nach seiner Ansicht der Gerechtigkeit entspricht.
Durch das Gesetz vom 5. Mai 1955 wurde der Artikel III aufgehoben.
Artikel IV. 1. Wird jemandem, der sich in einer der deutschen Zonen befindet, ein Verbrechen, das einen der Tatbestände des Artikel II erfüllt, und das außerhalb Deutschlands oder in einer anderen Zone begangen wurde, zur Last gelegt, so kann die Regierung des betreffenden Staates oder der Befehlshaber der betreffenden Zone an den Befehlshaber der Zone, in der sich der Angeschuldigte befindet, das Ersuchen stellen, ihn zu verhaften und ihn zur Aburteilung dem Staat oder der Zone auszuliefern, in der das Verbrechen begangen wurde.
Einem solchen Auslieferungsantrag soll der Zonenbefehlshaber Folge leisten, es sei denn, daß nach seiner Meinung der Angeschuldigte zur Aburteilung oder als Zeuge von einem Internationalen Militärgerichtshof oder in Deutschland oder in einem anderen als dem antragstellenden Staate benötigt wird, oder daß der Zonenbefehlshaber sich nicht davon überzeugen kann, daß dem Auslieferungsantrag entsprochen werden sollte. In diesen Fällen hat er das Recht, den Auslieferungsantrag dem Justizdirektorium des Kontrollrates vorzulegen. Dieses Verfahren findet auf Zeugen und alle anderen Arten von Beweismitteln entsprechende Anwendung.
2. Das Justizdirektorium prüft die ihm vorgelegten Anträge
und fällt nach Maßgabe der folgenden Grundsätze eine Entscheidung, die es sodann
dem Zonenbefehlshaber mitteilt.
a) Wer zur Aburteilung oder als Zeuge von einem Internationalen
Militärgerichtshof angefordert ist, wird zur Aburteilung außerhalb Deutschlands
nur dann ausgeliefert, bzw. zur Zeugenaussage außerhalb Deutschlands nur dann
angehalten, wenn der gemäß dem Londoner Abkommen vom 8. August 1945 eingesetzte
Ausschuß der Hauptankläger seine Zustimmung erteilt.
b) Ist ein Angeschuldigter von mehreren Behörden, von welchen keine ein
Internationaler Militärgerichtshof ist, zur Aburteilung angefordert, so werden
die Auslieferungsanträge nach Maßgabe der folgenden Rangordnung entschieden:
1. Wird der Angeschuldigte zur Aburteilung in der Zone, in
der er sich befindet, benötigt, so wird er nur dann ausgeliefert, wenn
Vorkehrungen für seine Rückkehr nach stattgefundener auswärtiger Verhandlung
getroffen sind.
2. Wird er zur Aburteilung in einer anderen Zone als der
seines Aufenthalts benötigt, so wird er zuerst nach der anfordernden Zone
ausgeliefert, ehe er außerhalb Deutschlands verschickt wird, es sei denn. daß
Vorkehrungen für seine Rückkehr in die anfordernde Zone nach stattgefundener
auswärtiger Verhandlung getroffen sind.
3. Wird er zur Aburteilung außerhalb Deutschlands von zweien
oder mehreren der Vereinten Nationen benötigt, so hat, diejenige den Vorrang,
deren Staatsangehörigkeit er besitzt.
4. Wird er zur Aburteilung außerhalb Deutschlands von
mehreren Ländern benötigt und befinden sich unter diesen solche die nicht den
Vereinten Nationen angehören, so hat das Land, das den Vereinigten Nationen
angehört, den Vorrang.
5. Wird er zur Aburteilung außerhalb Deutschlands von zweien
oder mehreren der Vereinten Nationen angefordert, so hat, vorbehaltlich der
Bestimmung in Ziffer 3, diejenige den Vorrang, welche die schwerste durch
Beweismaterial gerechtfertigte Anklage vorbringt.
Durch das Gesetz vom 5. Mai 1955 wurde der Artikel IV aufgehoben.
Artikel V. Die nach Maßgabe des Artikels IV dieses Gesetzes zwecks Aburteilung vorzunehmende Auslieferung von Angeschuldigten soll auf Grund von Anträgen von Staatsregierungen und Zonenbefehlshabern so erfolgen, daß die Auslieferung eines Verbrechers in ein Hoheitsgebiet nicht dazu ausgenutzt werden kann, um in einem anderen Gebiet den: freien Lauf der Gerechtigkeit zu vereiteln oder unnötig zu verzögern. Wenn innerhalb von sechs Monaten der Ausgelieferte nicht von dem Gericht der Zone oder des Landes, wohin er ausgeliefert wurde, verurteilt worden ist, dann soll er auf Ersuchen des Befehlshabers der Zone, in der er sich vor seiner Auslieferung aufgehalten hat, wieder in diese Zone zurückgebracht werden.
Durch das Gesetz vom 5. Mai 1955 wurde der Artikel V aufgehoben.
Ausgefertigt in Berlin, den 20. Dezember 1945.
(Die in den drei offiziellen Sprachen abgefaßten Originaltexte dieses Gesetzes sind von Joseph T. McNarney, General, B. L. Montgomery, Feldmarschall, L. Koeltz, Armeekorps-General, und G. Schukow, Marschall der Sowjetunion, unterzeichnet.)