Gesetz, den Geschäftsgang des Landtags betreffend.

vom 19. Januar 1872

geändert durch
§ 26 des Landtagsabschieds vom 1. Juli 1886 (GVBl. S. 327)
Gesetz vom 4. Juli 1904, die Abänderungen einiger Bestimmungen über den Geschäftsgang des Landtags betreffend (GVBl. S. 231)

Ludwig II.
von Gottes Gnaden, König von Bayern,
Pfalzgraf bei Rhein,
Herzog von Bayern, Franken und Schwaben

Wir haben die Bestimmungen über den Geschäftsgang des Landtags einer Revision unterstellen lassen und nach Vernehmung Unseres Staatsraths und mit Beirath und Zustimmung der Kammer der Reichsräthe und der Kammer der Abgeordneten, dann bezüglich des Abschnittes II unter Beobachtung der im § 7 Tit. X der Verfassungs-Urkunde vorgeschriebenen Formen beschlossen und verordnen, was folgt:

Abschnitt I.

Allgemeine Bestimmungen

Art. 1. Jeder Kammer kommt zu, ihre Geschäftsordnung selbst festzustellen und nach Bedürfniß anzuändern unter Beobachtung der nachfolgenden und der sonstigen über den Landtag bestehenden verfassungsmäßigen Bestimmungen.

Besondere Bestimmungen

Abtheilung I.
Einberufung und Constituirung des Landtags

Art. 2. Der Landtag wird durch Königliche Ausschreibung einberufen, worin der Ort und Tag der Versammlung bestimmt wird. Jedes Mitglied der beiden Kammern erhält überdieß eine besondere Mittheilung hierüber, welche bei der Anmeldung in der Kammer vorzulegen ist.

Diese Vorlage erfolgt nach den näheren Bestimmungen der Geschäftsordnung.

Art. 3. Der Landtag wird an demjenigen Tage, auf welchen er einberufen ist, eröffnet. Ort und Stunde der Eröffnung, sowie die Formen, unter welchen dieselbe stattfindet, bestimmt der König.

Art. 4. Sämmtliche nue eintretende Mitglieder der beiden Kammern leisten bei der Eröffnung den verfassungsmäßig vorgeschriebenen Eid in die Hände des Königs oder in die Hände des von IHm zu der Eröffnung des Landtags Bevollmächtigten.

Die später eintretenden Mitglieder haben diesen Eid in die Hände des Präsidenten anzulegen.

Art. 5. Nach der Eröffnung des Landtags beginnt die Prüfung der Legitimationen der Kammermitglieder in der durch die Geschäftsordnung vorgeschriebenen Weise.

Ueber erhobene Beanstandungen entscheidet die Kammer. Die Regierung ist berechtigt, Beanstandungen zu erheben, und an allen Verhandlungen über die erhobenen Bedenken oder Beanstandungen Theil zu nehmen.

Das Recht der Beanstandung steht ferner einem jeden Wahlberechtigten bezüglich der in seinem Wahlbezirke gewählten Abgeordneten zu.

Wahlbeanstandungen, welche später als zehn Tage nach der Eröffnung des Landtags und bei Nachwahlen, die während der Session stattfinden, nach Feststellung des Wahlergebnisses erfolgen, bleiben unberücksichtigt.

Die zu Abgeordneten Gewählten treten, wenn sie den Bestimmungen der Geschäftsordnung über die Vorlage ihres Einberufungsschreibensn genügt haben, sofort in die Kammer und behalten in derselben bis zur Ungiltigkeitserklärung ihrer Wahl Sitz und Stimme.

Art. 6. Sobald die Anwesenheit einer beschlußfähigen Anzahl von Mitgliedern einer Kammer festgestellt ist, wählt dieselbe und zwar die Kammer der Reichsräthe ihren zweiten und die Kammer der Abgeordneten ihre Präsidenten. Die Wahl erfolgt in gesonderten Wahlhandlungen durch Stimmzettel nach absoluter Mehrheit.

Hat sich eine absolute Mehrheit im ersten Wahlgange nicht ergeben, so sind diejenigen drei Candidaten, welche die meisten Stimmen erhalten haben, auf die engere Wahl zu bringen. Wird auch bei dieser Wahl keine absolute Mehrheit erreicht, so sind diejenigen beiden Candidaten, welche die meisten Stimmen in der engeren Wahl erhalten haben, auf eine zweite engere Wahl zu bringen. Tritt in dieser letzten Wahl Stimmengleichheit ein, so entscheidet das Loos. Bei Ausmittelung derjenigen Candidaten, welche nach den vorstehenden Vorschriften auf die engere Wahl zu bringen sind, entscheidet bei Stimmengleichheit ebenfalls das Loos.

Auf die Wahl der Präsidenten folgt diejenige der Schriftführer nach Anleitung der Geschäftsordnung, bei Stimmengleichheit entscheidet auch hier das Loos.

Von der vollzogenen Zusammensetzung des Direktoriums gibt jede Kammer dem Gesammtministerium und der anderen Kammer Nachricht.

Sodann bestellt jede Kammer die nach den Bestimmungen eines Gesetzes oder der Geschäftsordnung erforderlichen Ausschüsse oder Abtheilungen.

siehe auch das Gesetz vom 28. Mai 1852 die Ernennung des ersten Präsidenten der Kammer der Reichsräte betreffend (GBl. 1851/52 S. 597).

Abtheilung II.
Polizei im Sitzungsgebäude. Registratur-, Kanzlei- und übriges Dienstpersonal der Kammer. Ausgaben

Art. 7. Während der Dauer der Versammlung gebührt jeder Kammer die Polizei in ihrem Sitzungsgebäude und wird in ihrem Namen ausschließend von dem Präsidenten nach den Bestimmungen der Geschäftsordnung ausgeübt.

Den Präsidenten der Kammern wird zu diesem Zwecke eine Militärwache zur Verfügung gestellt.

siehe auch die §§ 94 - 96 der Reichs-Strafprozeß-Ordnung von 1877, die nach Auffassung des preuß. Abgeordnetenhauses die Präsidenten verpflichten, zum Zwecke der Strafverfolgung Petitionen an die Kammern an Untersuchungsbeamte herauszugeben.

Art. 8. Die Präsidenten der Kammern sind verpflichtet, die Ruhe in den Sitzungen aufrecht zu erhalten, Zeichen des Beifalles und der Mißbilligung den Zuhörern nicht zu gestatten, nöthigenfalls jeden derselben, welcher die Ruhe der Sitzungen in irgend einer Weise stört, aus dem Sitzungssaale wegzuweisen und nach Umständen an die zuständige Behörde anzuführen und eintretenden Falls die Gallerien räumen zu lassen. Im Falle der Räumung der Gallerien kann die Sitzung bis zur Erschöpfung der Tagesordnung fortgesetzt werden.

Art. 9. Der Präsident ist berechtigt und verpflichtet, jedes Kammermitglied, welches einer in diesem Gesetze oder in der Geschäftsordnung enthaltenen Bestimmung entgegenhandelt, sofort zur Ordnung zu verweisen und ihm im Weigerungsfalle die fernere Wortführung zu untersagen. Dem Betheiligten steht jedoch das Recht der Berufung an die Kammer zu.

Art. 10. Die anwesenden Staatsminister, königlichen Commissäre, sowie alle Mitglieder der Kammer sind befugt, den Präsidenten auf Zuwiderhandlungen gegen die Ordnung aufmerksam zu machen und auf Zurückweisung zur Ordnung anzutragen.

Art. 11. Zur Aufbewahrung der Akten und Ordnung der Registratur des Landtags haben die Kammern einen gemeinschaftlichen ständigen Archivar zu benennen, welcher aus der Staatscasse besoldet wird.

Das erforderliche Kanzlei- und sonstige Dienstpersonal wird von den in der Geschäftsordnung jeder Kammer zu bestimmenden Organen derselben aufgenommen und bis zur Aufarbeitung aller Geschäfte nach Bedürfniß verwendet.

Der Archivar wurde vom König zum Beamten nach dem Beamtenrecht ernannt; diese kgl. Ernennung war in Bezug auf deren Besoldung aber nicht erforderlich; das Kanzlei- und sonstige Dienstpersonal wurde nach dem Beamtengesetz von 1908 auf Vorschlag der Direktorien der beiden Kammern ernannt

Art. 12. Die Staatscasse bestreitet die sämmtlichen Ausgaben des Landtags und leistet den Kammervorständen auf jedesmaliges Begehren die nöthigen Vorschüsse, über deren Verwendung nach geendigter Versammlung Rechnung zu stellen ist.

Bei Rechtsstreitigkeiten wurde der Landtag nicht von den Direktorien der beiden Kammern sondern dem Staatsärar (= Verwalter des Staatsvermögens) vertreten, da der Landtag nicht als juristische Person sondern nur als ein zur Erfüllung öffentlicher Aufgaben berufenes Kollegium angesehen wurde.

Abtheilung III.
Sitzungen der Kammern, Berathungen , Abstimmung und Beschlußfassung, Beziehungen derselben zur Staatsregierung und untereinander.

A. Sitzungen der Kammern.

Art. 13. Die Sitzungen der beiden Kammern werden nach Maßgabe der Geschäftsordnung von dem Präsidenten bestimmt, geleitet und geschlossen.

Dieselben sind öffentlich.

Ausnahmsweise findet die Oeffentlichkeit der Sitzungen nicht statt:
a) auf den Antrag des Direktoriums oder einer in der Geschäftsordnung zu bestimmenden Zahl von Mitgliedern;
b) wenn ein Staatsminister oder k. Commissär erklärt, daß er der Kammer eine Eröffnung in vertraulicher Sitzung zu machen habe. Ueber solche Eröffnungen der Regierung darf ohne deren Zustimmung weder eine öffentliche Berathung, noch eine Bekanntmachung erfolgen.

Art. 14. Wenn die Staatsminister oder k. Commissäre das Wort verlangen, um im Namen des Königs Vorlagen zu machen, so bleibt die Tagesordnung bis nach Beendigung des Vortrages hierüber unterbrochen.

Art. 15. Die k. Staatsminister und k. Commissäre müssen über jeden Berathungsgegenstand auf ihr Verlangen zu jeder Zeit gehört werden, ohne daß jedoch dadurch ein Redner in seinem bereits begonnenen Vortrage unterbrochen werden darf.

Art. 16. Die Staatsminister und k. Commissäre sind gleich den Kammermitgliedern berechtigt, bei allen zur Verhandlung kommenden Gesetzentwürfen Abänderungen oder Unterabänderungen vorzuschlagen.

Art. 17. Nur diejenigen Mitglieder der Ausschüsse oder Abtheilungen, welche Bericht erstatten oder ein Sondergutachten abgeben, dann die Statsminister und k. Commissäre sind befugt, Vorträge abzulesen.

Art. 18. Anfragen (Interpellationen) einzelner Kammermitglieder an die Staatsregierung sind dem Präsidenten kurz motivirt und schriftlich zu übergeben, welcher solche sofort dem betreffenden Minister mitzutheilen hat.

Art. 19. In der hierauf folgenden nächsten oder längstens in der zweiten Sitzung wird die übergebende Interpellation, deren weitere Motivirung unzulässig ist, von dem Interpellanten verlesen und hierauf vor Allem die Unterstützungsfrage gestellt.

Durch § 26 des Landtagsabschieds vom 1. Juli 1886 erhielt der Artikel 19 folgende Fassung:
"Art. 19. In der hierauf folgenden nächsten oder längstens in der zweiten Sitzung wird die übergebene Interpellation (von dem Interpellanten) verlesen und hierauf vor Allem die Unterstützungsfrage gestellt."

Art. 20. Findet die Interpellation die nöthige Unterstützung, so hat der treffende Minister dieselbe entweder gleich zu beantworten oder den Tag zu bestimmen, wann dieses geschehen soll, oder die Gründe anzugeben, aus welchen die Beantwortung nicht erfolgen könne.

Durch § 26 des Landtagsabschieds vom 1. Juli 1886 erhielt der Artikel 20 folgende Fassung:
"Art. 20. Findet die Interpellation die nöthige Unterstützung, so hat der betreffende Minister dieselbe entweder gleich zu beantworten, oder den Tag zu bestimmen, wann dieses geschehen soll, oder die Gründe anzugeben, aus welchen die Beantwortung nicht erfolgen könne.
Vor der Beantwortung ist der Interpellant befugt, seine Interpellation mündlich zu begründen."

Art. 21. Eine weitere Verhandlung über die Anfrag  e und darauf ertheilte Antwort findet nicht statt.

Ist der Interpellirende durch die letztere nicht zufrieden gestellt, so steht es ihm frei, deßfalls einen förmlichen Antrag zu stellen, welcher auf dem von der Geschäftsordnung vorgeschriebenen Wege zu erledigen ist.

Durch § 26 des Landtagsabschieds vom 1. Juli 1886 erhielt der Artikel 21 folgende Fassung:
"Art. 21. An die Beantwortung der Interpellation oder deren Ablehnung darf sich eine sofortige Besprechung des Gegenstandes derselben anschließen, wenn in der Kammer der Reichsräthe mindestens 15, in der Kammer der Abgeordneten mindestens 25 Mitglieder darauf antragen.
Die Stellung eines Antrages bei dieser Besprechung ist unzulässig, es steht aber jedem Kammermitgliede frei, auf dem von der Geschäftsordnung vorgeschriebenen Wege in Form eines Antrages den Gegenstand weiter zu verfolgen."

B. Berathungen

Art. 22. Berathungsgegenstände, deren Verweisung an einen Ausschuß in der Verfassung oder einem sonstigen gesetze vorgeschrieben oder von den Staatsministern beantragt ist, müssen der Vorberathung und beziehungsweise Beschlußfassung in einem Ausschusse unterstellt werden.

In den Ausschüssen und Abtheilungen sind die Regierungs-Vorlagen, soweit nicht namentlich wegen besonderer Dringlichkeit, mit Zustimmung der betreffenden Staatsminister oder der Commissäre ein Anderes von der Kammer beschlossen wird, vor allen übrigen Berathungsgegenständen sowohl hinsichtlich der Bearbeitung als der Berathung zu berücksichtigen.

Es soll jedoch in jeder Woche ein Tag der Berathung und Erledigung der Anträge der Kammermitglieder und der Beschwerden gewidmet werden.

Der Kammer bleibt es unbenommen, diese Berathung und Erledigung zu vertagen und eine bereits begonnene Diskussion fortzusetzen und zu beendigen.

Art. 23. Vorlagen der Regierung und gesonderte Anträge, welche ohne vorherige Verweisung an einen Ausschuß (Commission, Abtheilung) in der Kammer berathen werden sollen, sind durch den Druck zu vervielfältigen, an die Kammermitglieder zu vertheilen und gleichzeitig den Vertretern der Staatsregierung zuzustellen.

Berichte und Gutachten, welche von einem Ausschusse (Commission, Abtheilung) über Regierungsvorlagen, über Anträge der Kammermitglieder oder über Beschwerden abzugeben sind, müssen, insoferne nicht mit Zustimmung der Regierungsvertreter etwas Anderes beschlossen wird, zum Behufe der erstmaligen Berathung des Gegenstandes schriftlich erstattet, gedruckt und vertheilt werden.

Art. 24. Die Berathung über die im Art. 23 bezeichneten Drucksachen kann ohne Zustimmung der Regierung nicht früher erfolgen, als nachdem zwischen dem Tage, an welchem die Vertheilung stattgefunden hat, und dem Tage der Berathung zwei volle Tagen verflossen sind.

Die Gegenstände, welche sich auf Vorlagen und Mittheilungen der Regierung beziehen, sind vor allen anderen auf die Tagesordnung zu bringen, wenn nicht die betreffenden Staatsminister oder Regierungscommissäre einen Aufschub verlangen oder demselben beistimmen.

C. Abstimmung und Beschlußfassung

Art. 25. Zur giltigen Abstimmung wird die Gegenwart der Mehrheit jener Mitglieder erfordert, aus welchen verfassungsmäßig jede der Kammern zu bestehen hat, mit Vorbehalt derjenigen Fälle, in welchen gesetzlich die Anwesenheit einer größeren Anzahl vorgeschrieben ist.

Durch Gesetz vom 4. Juli 1904, die Abänderung einiger Bestimmungen über den Geschäftsgang des Landtages betreffend erhielt der Artikel 25 folgende Fassung:
"Art. 25. Zur gültigen Abstimmung wird - mit Vorbehalt derjenigen Fälle, in welchern die gesetzlich die Anwesenheit einer größeren Anzahl vorgeschrieben ist - die Gegenwart der Mehrheit jener Mitglieder erfordert, aus welcher verfassungsmäßig jede der beiden Kammern im gegebenen Zeitpunkte besteht.
Hierbei sind
a) die gesetzlich von der Abstimmung Ausgeschlossenen,
b) die Beurlaubten, die wegen Krankheit Entschuldigten und die sonsti mit Genehmigung des Präsidenten Abwesenden nicht mitzuzählen."

Art. 26. Wenn im Augenblicke der Abstimmung diese Mehrheit nicht versammelt ist, so hat der Präsident die Anwesenden für die nächste Sitzung persönlich laden und die Ladung bescheinigen zu lassen.

Durch Gesetz vom 4. Juli 1904, die Abänderung einiger Bestimmungen über den Geschäftsgang des Landtages betreffend erhielt der Artikel 26 folgende Fassung:
"Art. 26. Wenn zur Zeit der Abstimmung die zur Beschlußfähigkeit erforderliche Zahl nicht vorhanden ist, so kann die Abstimmung in einer späteren Sitzung vorgenommen werden. Erst wenn auch hier Beschlußunfähigkeit eintritt, hat der Präsident die Anwesenden mit Ausnahme der im Artikel 25 Absatz 2 Genannten unter Androhung des gesetzlichen Nachteiles für die nächste Sitzung persönlich laden und die Ladung bescheinigen zu lassen."

Art. 27. Jedes Mitglied der Kammer der Abgeordneten, welches nach geschehener zweimaliger, richtig nachgewiesener Ladung auf die dritte unter Androhung des Ausschlusses an ihn ergangene und nachgewiesene Vorladung weder erscheint, noch sein Ausbleiben durch genügend dargelegte Gründe rechtfertigt, wird als ausgetreten betrachtet.

Art. 28. Wenn ein Mitglied der Kammer der Reichsräthe nach geschehener zweimaliger, richtig nachgewiesener Ladung auf die dritte unter Androhung des unten festgesetzten Rechtsnachtheiles an dasselbe ergangene und nachgewiesene Vorladung weder erscheint, noch sein Ausbleiben durch genügend dargelegte Gründe rechtfertigt, so wird das betreffende Mitglied für die Dauer des Landtages als ausgetreten betrachtet.

Art. 29. An der Abstimmung Theil zu nehmen ist jeder anwesende Mitglied verpflichtet. Dagegen hat sich der Abstimmung zu enthalten:
1) jedes einzelne Kammermitglied, wenn auf dessen Antrag oder in Folge einer durch die Geschäftsordnung gestatteten Reklamation über die dauernde oder vorübergehende Verpflichtung oder Berechtigung desselben zum Sitze in der Kammer entschieden weden soll;
2) jedes einzelne Kammermitglied, gegen welches eine nach der Geschäftsordnung zulässige Anklage oder Beschwerde erhoben wird, oder welches eine solche gegen ein anderes Mitglied der Kammer erhebt;
3) jedes einzelne Kammermitglied, welches in irgend einer von der Geschäftsordnung vorgesehenen Form die Entscheidung der Kammer bezüglich einer rein persönlichen Angelegenheit in Anspruch nimmt.

Reklamationen, Anklagen und Beschwerden, welche gegen mehrere Kammermitglieder zugleich gerichtet sind, werden in der Abstimmung getrennt behandelt, den Fall der formellen Beanstandungen der Wahl eines ganzen Wahlbezirkes abgerechnet.

Art. 30. Jedem Mitgliede der Kammer steht frei, Erinnerung gegen die Fassung und Stellung der Fragen zu machen.

Dasselbe Recht steht auch den Staatsminister und k. Commissären zu, wenn die Fragen eine Vorlage der Regierung oder einen Gegenstand betreffen, der an dieselbe gebracht werden soll.

Art. 31. Die Abstimmung geschieht bei allen Gegenständen, welche öffentlich berathen werden, öffentlich, und zwar in der Regel durch Aufstehen und Sitzenbleiben.

Die Kammer kann jedoch die Abstimmung durch Namensaufruf beschließen.

Ueber das Ganze von Gesetzen muß jedenfalls öffentlich mittels Namensaufrufes abgestimmt werden.

Art. 32. Giltige Beschlüsse können nur mit Stimmenmehrheit der Anwesenden gefaßt werden, mit Vorbehalt derjenigen Fälle, in welchen besondere Gesetze mehr als einfache Stimmenmehrheit erfordern.

Bei Stimmengleichheit wird der in Berathung gezogene Vorschlag als verworfen erachtet.

D. Beziehungen der Kammern zu der Staatsregierung und untereinander.

Art. 33. Die Kammern sowohl als die Ausschüsse haben innerhalb des Umfanges ihres Wirkungskreises das Recht, diejenigen Erläuterungen und Aufschlüsse, welche sie für erforderlich erachten, von den einschlägigen Staatsministerien zu verlangen, und haben letztere solchem Ansinnen zu entsprechen.

Unmittelbares Benehmen mit anderen Stellen und Behörden ist nicht gestattet.

Die Ausschüsse sind ferner befugt, das mündliche und schriftliche Gutachten von Sachverständigen zu erholen.

Zur Abgabe solcher Gutachten kann Niemand angehalten werden, ebenso dürfen hiedurch keine eigenen Ausgaben für die Staatscasse erwachsen.

Art. 34. Die von den Ausschüssen (Commissionen, Abtheilungen) bearbeiteten Vorträge sind den Staatsministern und k.Commissären gleichzeitig mit der Vertheilung an die Kammermitglieder zuzustellen.

Art. 35. Für die nach Tit. VII. § 14 der Verfassungsurkunde zu ernennenden Commissäre hat jede Kammer sogleich nach der Wahl der Ausschüsse die entsprechende Wahl vorzunehmen, und gleichzeitig auch einen Stellvertreter zu wählen, welcher im Verhinderungsfalle des Commissärs in dessen Befugniß und Verpflichtung eintritt.

Diese Commissäre und Stellvertreter haben ihre Functionen auch nach Verfluß der Wahlperiode und selbst im Falle der Auflösung der Kammern bis zur Ernennung von Nachfolgern forzusetzen.

Art. 36. Diese Commissäre haben auch nach der Beendigung des Landtages über die genaue Einhaltung des gesetzlichen Staatsschuldentilgungsplanes und die Befolgung der über das Staatsschuldentilgungswesen überhaupt bestehenden gesetzlichen Bestimmungen fortwährend zu wachen.

Sie haben zu diesem Zwecke von den sämmtlichen Verhandlungen der Staatsschuldentilgungs-Commission Kenntniß zu nehmen, welche denselben überdieß zu jeder Zeit auf Verlangen die erforderlichen Acten, Rechnungen, Cassabücher, Urkunden und sonstige Behelfe zur Einsicht vorzulegen hat.

Sie haben hierbei insbesondere Augenmerk darauf zu richten, daß keine Vermischung der Gelder der Ablösungscassa mit jenen der Staatsschuldentilgungscassa oder irgend einer anderen Staatscassa stattfinde. Diese Mitglieder sind befugt, von sämmtlichen Verhandlungen der Commission, den Journalen und Hauptbüchern jederzeit Einsicht zu nehmen und im Falle die Commission ihre gegründeten Bemerkungen gegen allenfallsige Ueberschreitung der Befugnisse oder Nichtbefolgung des genehmigten Tilgungsplanes unbeachtet lassen würde, hievon dem Staatsministerium der Finanzen Mittheilung zu machen, und dem nächsten Landtage Anzeige zu erstatten.

Art. 37. Weder die Kammern noch ihre Ausschüsse sind berechtigt, ohne Zustimmung der Staatsregierung Aufrufe oder Erklärungen an das Volk oder einzelne Theile desselben zu richten, oder Deputationen oder Ueberbringer von Bittschriften zuzulassen.

Art. 38. Die geschäftlichen Beziehungen beider Kammern werden durch Uebereinkunft der Directoren geordnet.

hierzu ist der Beschluß der Direktorien der beiden Kammern vom 28. März 1851.

Art. 39. Sobald ein Gesammtbeschluß beider Kammern zu Stande gekommen ist, wird derselbe dem Gesammtstaatsministerium behufs der Vorlage an den König übersendet. Dasselbe gilt von Vorlagen jeder einzelnen Kammern.

Art. 40. Der König ertheilt oder verweigert den Gesetzentwürfen, welche die Zustimmung beider Kammern erhalten haben, seine Sanction entweder sogleich nach der Vorlage eines jeden einzelnen Gesammtbeschlusses, oder spätestens beim Schlusse der Versammlung im Landtags-Abschiede; dasselbe geschieht hinsichtlich der Bescheidung der von den Kammern gestellten Anträge.

Abschnitt I.

(Verfassungsbestimmung)

1. An die Stelle des § 20 Abs. I Tit. VII der Verfassungsurkunde tritt folgende Bestimmung, welche einen Bestandtheil der Verfassungsurkunde bildet:
"Jedes einzelne Mitglied hat das Recht, in dieser Beziehung seine Wünsche und Anträge in der Kammer einzubringen."

2. An die Stelle des § 21 Absatz I Tit. VII der Verfassungsurkunde tritt folgende Bestimmung, welche einen Bestandtheil der Verfassungsurkunde bildet:
"Jeder einzelne Staatsangehörige sowie jede Gemeinde kann Beschwerden über Verletzung der constitutionellen Rechte an den Landtag und zwar an jede der beiden Kammern bringen, welche sie durch den hierüber bestehenden Ausschuß prüfen läßt und nach Maßgabe der Geschäftsordnung in Berathung nimmt."

Schlußbestimmungen

Mit der Verkündung des vorstehenden Gesetzes durch das Gesetzblatt und durch das Amtsblatt der Pfalz tritt das Gesetz vom 25. Juli 1850, den Geschäftsgang des Landtages betreffend, außer Wirksamkeit.

Die Geschäftsbehandlung jeder Kammer richtet sich in Bezug auf die durfh das gegenwärtige Gesetz im wege der Geschäftsordnung anheimgegebenen Punkte nach den bisherigen Bestimmungen bis zu dem Tage, an welchem die revidirte Geschäftsordnung gemäß Beschluß der Kammer in Wirksamkeit tritt.

    Gegeben München, am 19. Januar 1872

Ludwig II.

Graf v. Hegnenberg-Dux, v. Pfretzschner,
Frhr. v. Pranckh, v. Lutz, v. Pfeufer, Dr. Fäustle

Nach dem Befehle Sr. Majestät des Königs:
Der Generalsecretär des Staatsrathes
Seb. v. Kobell


Das vorstehende Gesetz führte den Titel VII. § 20 Abs. 1 und § 21 Abs. 1  der Verfassungs-Urkunde näher aus. Es wurde bezüglich einzelner wichtiger oder dringender Gesetzesvorlagen durch besondere Gesetze, jeweils nur mit Wirkung auf die Verabschiedung dieser Gesetzesvorlagen, geändert.


Quellen: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1872, S. 173
Hermann Rehm, Quellensammlung zum Staats- und Verwaltungsrecht des Kgr. Bayern, Verlag Hirschfeld, Leipzig 1903
©  8. Juni 2003


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