Konvention
zwischen Litauen und dem Britischen Reich, Frankreich, Italien und Japan
über das Memelgebiet

vom 8. Mai 1924

faktisch aufgehoben durch
Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Litauen von 22. März 1939 (RGBl II 1939 S. 608)
 

Das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika als die Alliierten und Assoziierten Hauptmächte, Unterzeichnet des Friedensvertrages von Versailles vom 28. Juni 1919, einerseits,

und Litauen andererseits,

haben in dem Wunsch, der von den vier erstgenannten Mächten auf der Konferenz ihrer Botschafter zu Paris am 16. Februar 1923 getroffenen und von Litauen am 13. März 1923 angenommenen Entscheidung Wirksamkeit zu verleihen, zu diesem Zweck ihre Bevollmächtigten ernannt, nämlich:

Seine Majestät der König des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Irland und der britischen Besitzungen über See, Kaiser von Indien:
    den Sehr Ehrenwerten Robert Offley Ashburton, Marquis von Crewe, Seiner Britischen Majestät Außerordentlicher Botschafter und Bevollmächtigter zu Paris;

Der Präsident der Französischen Republik:
    Herrn Raymond Poincaré, Ministerpräsident, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten;

Seine Majestät der König von Italien:
    Baron Camillo Romano Acezzana, Außerordentlicher Botschafter und Bevollmächtigter S. M. des Königs von Italien zu Paris;

Seine Majestät der Kaiser von Japan:
    Vicomte Ishii, Außerordentlicher Botschafter und Bevollmächtigter S. M. des Kaisers von Japan zu Paris,

Der Präsident von Litauen:
    Herrn Ernst Galvanauskas, Ministerpräsident, Minister der Auswärtigen Angelegenheiten;

welche nach Austausch ihrer in guter und gehöriger Form befundenen Vollmachten über folgende Bestimmungen übereingekommen sind:

Artikel 1. Das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan, zusammen mit den Vereinigten Staaten von Amerika als die Alliierten und Assoziierten Hauptmächte, Unterzeichner des Vertrages von Versailles, übertragen an Litauen unter Vorbehalt der in diesem Abkommen festgesetzten Bedingungen alle ihren von Deutschland gemäß Artikel 99 des Versailler Vertrages abgetretenen Rechte udn Ansprüche auf das Gebiet zwischen der Ostsee, der Nordostgrenze von Ostpreußen (so wie es in Art. 28 des genannten Vertrages beschrieben ist und sich insbesondere aus dem Schreiben des Präsidenten der Botschafterkonferenz der Alliierten Regierungen zu Paris an die Deutsche Botschaft zu Paris vom 18. Juli 1921 ergibt) und der alten Grenze zwischen Deutschland und Rußland; dieses Gebiet wird in dem vorliegenden Abkommen als "Memelgebiet" bezeichnet.

Artikel 2. Das Memelgebiet bildet unter der Souveränität Litauens eine Einheit, die in Gesetzgebung, Rechtsprechung, Verwaltung und Finanzen innerhalb der Schranken des in Anhang I aufgestellten Statuts Autonomie genießt.

Artikel 3. Litauen versteht sich dazu, die Bestimmungen über die Verwaltung des Memeler Hafens, die in Anhang II, und über den Transitverkehr, die in Anhang III enthalten sind, durchzuführen.

Artikel 4. Die Kosten der Besetzung, der Verwaltung und die Hälfte der Ausgaben für die Abgrenzung des Gebietes werden von der Republik Litauen den Mächten, die sie verauslagt haben, erstattet.

Der genaue Betrag der Litauen zur Last fallenden Kosten ebenso wie die Zahlungsweisen und -fristen werden durch eine Kommission festgesetzt, die aus einem von den Mächten und aus einem von Litauen ernannten Vertreter besteht. Falls die Kommission eine Einigung nicht erzielen kann, wird sie sich an den Präsidenten der Wirtschafts- und Finanzkommission des Völkerbundes wenden, damit dieser einen Schiedsrichter ernennt.

Artikel 5. Unter Vorbehalt der Bestimmungen der Art. 6 und 7 wird das im Memelgebiet belegene und am 10. Januar 1920 dem Deutschen Reich oder einem deutschen Staat gehörende Eigentum wie es in Art. 256 Abs. 2 des Versailler Vertrages vom 28. Juni 1919 bezeichnet ist, auf die Republik Litauen übertragen.

Dieses Eigentum mit Ausnahme der Eisenbahn, der Post, der Telegraphen- und Telephonanlagen, der Zollgebäude und des zum Hafen und seiner Ausrüstung gehörigen Staatseigentums wird von seiten der Litauischen Regierung an die Behörden des Memelgebiets zurückübertragen, immer vorbehaltlich der Bestimmungen des Art. 7.

Im Zusammenhang mit der Rückübertragung des im vorigen Absatz bezeichneten Eigentums wird zwischen Litauen und den Behörden des Memelgebiets ein Übereinkommen auf der Grundlage der von Litauen in Art. 6 hinsichtlich dieses Eigentums übernommenen Lasten getroffen werden.

Artikel 6. Litauen erklärt sich bereit, sowohl für sich selbst, als auch für das Memelgebiet die Last der Verpflichtungen zu übernehmen, welche sich für die Mächte, denen deutsches Gebiet abgetreten ist, aus den Bestimmungen der Artikel 254 und 256 des Vertrages von Versailles vom 28. Juni 1919 ergeben, und die Durchführung dieser Bestimmungen unter den Bedingungen zu verbürgen, die von der Reparationskommission auf Grund des Teils VIII des ganzen Vertrages von Versailles festgesetzt werden.

Artikel 7. Um die Bezahlung des Wertes des Eigentums sicher zu stellen, welches ihr gemäß Artikel 5 übertragen wird, bewilligt die Litauische Regierung für sich selbst und für das Memelgebiet von sofort ab eine Hypothek zur ersten STelle auf die in jenem Artikel vorgesehenen Vermögens- und Grundstücke zu Gunsten der Reparationskommission.

Artikel 8. Die früheren deutschen Staatsangehörigen, die am Tage der Ratifizierung dieses Abkommens durch Litauen über 18 Jahre alt sind und wenigstens seit dem 10. Januar 1920 im Memelgebiet ihren tatsächlichen Wohnsitz haben, erwerben ohne weiteres (ipso facto) die litauische Staatsangehörigkeit.

Es können für die litauische Staatsangehörigkeit innerhalb einer Frist von 6 Monaten nach dem Tage der Ratifizierung dieses Abkommens durch Litauen unter Verlust jeder anderen Staatsangehörigkeit optieren:
a) alle Personen, die am Tage der Ratifizierung dieses Abkommens durch Litauen über 18 Jahre alt sind, wenn sie im Memelgebiet geboren sind und dort länger als 10 Jahre ihren Wohnsitz gehabt haben,
b) alle Personen, die am Tage der Ratifizierung dieses Abkommens durch Litauen über 18 Jahre alt sind und eine dauernde Aufenthaltserlaubnis von der Interalliierten Verwaltung erhalten haben, vorausgesetzt, daß sie sich spätestens am 1. Januar 1922 im Gebiet niedergelassen haben.

Personen, die auf Grund dieses Artikels die litauische Staatsangehörigkeit erwerben, erwerben damit ohne weiteres (ipso facto) die Eigenschaft als Bürger des Memelgebiets.

Artikel 9. Die im ersten Absatz des Artikel 8 der bezeichneten Personen können innerhalb einer Frist von 18 Monaten vom Tage der Ratifizierung dieses Abkommens durch Litauen an für die deutsche Staatsangehörigkeit optieren.

Die Dauer dieser Frist wird jedoch auf 6 Monate beschränkt für die Personen, die im Memelgebiet nur in ihrer Eigenschaft als Staatsbeamte ihren Wohnsitz hatten und die litauische Staatsangehörigkeit infolge dieses Wohnsitzes erwerben.

Als Staatsbeamte im Sinne des vorigen Absatzes gelten diejenigen Beamten, die als solche von der deutschen Gesetzgebung angesehen wurden und die unmittelbar entweder der Regierung der Republik Litauen oder dem in Anhang I vorgesehenen Direktorium des Memelgebiets unterstellt sind ("unmittelbare Staatsbeamte").

Personen, die das vorerwähnte Optionsrecht ausgeübt haben, müssen innerhalb der zwei folgenden Jahre ihren Wohnsitz nach Deutschland verlegen.

Es steht ihnen frei, das unbewegliche Eigentum, das sie im Gebiet besitzen, zu behalten und ihre bewegliche Habe alle Art auszuführen. Hierbei sind sie von allen Ausfuhrzöllen und Abgaben befreit.

Artikel 10. Ehefrauen folgen in Ansehung aller Bestimmungen der Artikel 8 und 9 der Rechtslage ihrer Ehegatten, Kinder unter 18 Jahren der ihrer Eltern.

Artikel 11. Die von der Litauischen Regierung vor dem Völkerbundsrat in seiner Sitzung vom 12. Mai 1922 abgegebene Deklaration über den Schutz von Minderheiten findet auf die Minderheiten im Memelgebiet Anwendung mit Ausnahme von § 4 des Artikels IV dieser Deklaration, der nur im Hinblick auf die Bestimmungen in Artikel 27 des Anhangs I ausgeschlossen wird.

Das vom Völkerbundsrat angenommene Verfahren für die Behandlung von Gesuchen, die den Schutz der Minderheiten betreffen, gilt ohne weiteres auch für Gesuche, die den Schutz der Minderheiten im Memelgebiet betreffen.

Artikel 12. Personen und Gesellschaften fremder Staatsangehörigkeit haben im Memelgebiet die gleichen Rechte und genießen die gleiche Behandlung wie die Bürger und Gesellschaften des Memelgebiets und Litauens in allem, was die Benutzung des Hafens und den Genuß der Verkehrserleichterungen, die er bietet, anbetrifft, ebenso beim Ankauf, der Pachtung und der Benutzung von Grundstücken, jedoch nur zu Zwecken des redlichen Geschäftsverkehrs. Litauen behält indessen das Recht, die Küstenschiffahrt und die Fischerei in den Territorialgewässern seiner eigenen Flagge vorzubehalten.

Artikel 13. Alle Personen, die gemäß Artikel 8 und 10 die Eigenschaft als Bürger des Memelgebiets erwerben, sind bis zum 1. Januar 1930 vom Militärdienst befreit.

Artikel 14. Kein Bürger des Memelgebiets darf wegen seiner politischen Haltung in der Zeit zwischen dem 28. Juli 1914 und der Ratifizierung dieses Abkommens durch Litauen verfolgt oder behelligt werden.

Artikel 15. Die Souveränitätsrechte über das Memelgebiet oder ihre Ausübung können ohne Zustimmung der Hohen Vertragschließenden Teile nicht übertragen werden.

Artikel 16. Die Anhänge I - III dieses Abkommens sind in jeder Hinsicht als wesentliche Bestandteile desselben anzusehen.

Artikel 17. Die Hohen Vertragschließenden Teile erklären, daß jedes Mitglied des Völkerbundrates berechtigt sein soll, die Aufmerksamkeit des Rates auf jede Verletzung der Bestimmungen des gegenwärtigen Abkommens zu lenken.

Im Falle einer Meinungsverschiedenheit zwischen der Litauischen Regierung und irgend einer der Alliierten Hauptmächte, die Mitglied des Völkerbundsrates ist, in Fragen rechtlicher oder tatsächlicher Art, welche die Bestimmungen dieses Abkommens betreffen, wird die Meinungsverschiedenheit als ein Streitfall von internationaler Bedeutung im Sinne des Artikels 14 der Völkerbundssatzung betrachtet. Die Litauische Regierung ist damit einverstanden, daß alle Streitfälle dieser Art, wenn die andere Partei es verlangt, der Entscheidung des Ständigen Internationalen Schiedsgerichtshofs unterbreitet werden. Die Entscheidung des Schiedsgerichtshofs ist unanfechtbar und hat Kraft der Geltung einer gemäß Artikel 13 der Völkerbundssatzung getroffenen Entscheidung.

Artikel 18. Das vorliegende Abkommen, dessen französischer und englischer Text beide authentisch sind, bedarf der Ratifikation und die Ratifikationsurkunden sollen in Paris niedergelegt werden. Es tritt in Kraft, sobald die Ratifikationsurkunden niedergelegt worden sind.

Es soll vom Sekretariat des Völkerbundes registriert werden, sobald es von Litauen ratifiziert worden ist.

    Zu Urkund dessen haben die Unterfertigten das vorliegende Abkommen unterzeichnet.

    Geschehen zu Paris am 8. Mai 1924 in einem einzigen Exemplar, das in den Archiven der Französischen Regierung hinterlegt bleibt und von dem beglaubigte Ausfertigungen jeder Signatarmacht sowie dem Generalsekretär des Völkerbundes übermittelt werden.

Crewe.
   R. Pioncaré.
Romano Avezzana.
K. Ishii.
Galvanauskas.

 

Anhang I.
Statut des Memelgebiets.

 

Anhang II.
Der Memeler Hafen.

 

Anhang III.
Transitverkehr.

 

Übergangsbestimmung.

Litauen verpflichtet sich, unmittelbar nach Ratifizierung des am heutigen Tage mit dem Britischen Reich, Frankreich, Italien und Japan geschlossenen Abkommens und während der Zeit bis zur Ratifizierung desselben durch die anderen Mächte unverzüglich mit der Durchführung aller Bestimmungen des Abkommens und seiner Anhänge zu beginnen und fortzufahren.

Das Britische Reich, Frankreich, Italien und Japan erklären sich bereit, nach der Ratifizierung des genannten Abkommens durch Litauen den gesetzlichen Charakter derjenigen von der Litauischen Regierung im Memelgebiet vorgenommenen Staatshoheitsakte anzuerkennen, die nötig sind, um den in dem genannten Abkommen enthaltenen Verpflichtungen Wirksamkeit zu verleihen und die öffentliche Ordnung aufrecht zu erhalten.

    Zu Urkund dessen haben die Unterfertigten die vorliegende Übergangsbestimmung unterzeichnet.

    Geschehen zu Paris am 8. Mai 1924 in einem einzigen Exemplar, das in den Archiven der Französischen Regierung hinterlegt bleibt und von dem beglaubigte Ausfertigungen jeder Signatarmacht sowie dem Generalsekretär des Völkerbundes übermittelt werden.

Crewe.
   R. Pioncaré.
Romano Avezzana.
K. Ishii.
Galvanauskas.

 


Quelle: Konvention über das Memelgebiet, herausgegeben vom Direktorium des Memelgebiets, Memel 1925:
© 9. Dezember 2007 - 11. Dezember 2007
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