Memorandum der Militärgouverneure zum Grundgesetz
dem Präsidenten des Parlamentarischen Rates überreicht

vom 22. November 1948

Wie Ihnen wohl bekannt ist, wurde der Parlamentarische Rat einberufen, um eine demokratische Verfassung auszuarbeiten, die für die beteiligten Länder einen Regierungsaufbau föderalistischen Typs schafft, die Rechte der beteiligten Länder schützt, eine angemessene Zentralinstanz bildet und Garantien der individuellen Rechte und Freiheiten enthält. Während der vergangenen elf Wochen hat der Parlamentarische Rat im Plenum sowie in seinen verschiedenen Ausschüssen diese Grundsätze frei erörtert und ein Grundgesetz (vorläufige Verfassung) entworfen, das jetzt dem Hauptausschuß vorliegt.

Angesichts des fortgeschrittenen Stadiums der Arbeit des Parlamentarischen Rates, das jetzt erreicht worden ist, halten es die Militärgouverneure für ratsam, dem Rat einen Hinweis zu geben, auf welche Weise sie die in Dokument Nr. I. aufgestellten Grundsätze auslegen werden, denn man kann eine demokratische föderalistische Regierung auf verschiedene Weise schaffen. Sie beabsichtigen, die Bestimmungen des Grundgesetzes (der vorläufigen Verfassung) in ihrem ganzen Zusammenhang zu prüfen. Trotzdem sind sie der Ansicht, daß das Grundgesetz (die vorläufige Verfassung) in möglichst hohem Grade vorsehen sollte
a) ein Zweikammersystem, bei dem die eine Kammer die einzelnen Länder vertreten muß und genügende Befugnisse haben muß, um die Interessen der Länder wahren zu können;
b) daß die Exekutive lediglich die Befugnisse haben muß, die in der Verfassung genau vorgeschrieben sind; und daß die Ausnahmebefugnisse der Exekutive, wenn überhaupt, so beschränkt werden müssen, daß sie unverzüglich einer gesetzlichen oder gerichtlichen Nachprüfung bedürfen;
c) daß die Befugnisse der Bundesregierung auf diejenigen beschränkt sind, die in der Verfassung ausdrücklich aufgezählt sind und auf jeden Fall sich nicht erstrecken auf Erziehungswesen, kulturelle und kirchliche Angelegenheiten, Selbstverwaltung und öffentliches Gesundheitswesen (außer im letzten Fall, um die notwendige Koordinierung zum Schutze der Volksgesundheit in den verschiedenen Ländern zu erzielen); daß ihre Befugnisse auf dem Gebiet der öffentlichen Wohlfahrt auf diejenigen beschränkt sind, die für die Koordinierung sozialer Maßnahmen notwendig sind; daß ihre Befugnisse auf dem Gebiet der Polizei auf diejenigen beschränkt sind, die während der Besatzung von den Militärgouverneuren ausdrücklich gebilligt worden sind;
d) daß die Befugnisse der Bundesregierung auf dem Gebiet der öffentlichen Finanzen auf die Verfügung über Geldmittel, einschließlich von Einnahmen für Zwecke, für die sie verantwortlich ist, beschränkt sind; daß die Bundesregierung Steuersätze bestimmen darf und über die allgemeinen Grundsätze der Veranlagung bei anderen Steuern, für die Einheitlichkeit nötig ist, Gesetze erlassen darf, daß aber die Einziehung und Nutznießung solcher Steuern den Ländern überlassen bleiben; daß sie Mittel nur für Zwecke, für die sie verfassungsmäßig verantwortlich ist, an sich ziehen darf;
e) daß die Verfassung für eine unabhängige Gerichtsbarkeit sorgt zur Nachprüfung von Bundesgesetzen, zur Nachprüfung der Ausübung der Befugnisse der Bundesexekutive, zur Entscheidung über Streitigkeiten zwischen Behörden des Bundes und der Länder sowie zwischen Landesbehörden und zur Wahrung der bürgerlichen Rechte und Freiheiten des einzelnen;
f) daß die Befugnisse der Bundesregierung zur Schaffung von eigenen Bundesbehörden für die Ausführung und Verwaltung ihrer Angelegenheiten klar umrissen und auf diejenigen Gebiete beschränkt sein sollten, bei denen die Verwaltung durch Landesbehörden offensichtlich undurchführbar ist.
g) daß jeder Bürger Zutritt zu öffentlichen Ämtern hat, und daß Einstellung und Beförderung ausschließlich von seiner Eignung, die Aufgaben des Amtes zu erfüllen, abhängen, und daß der öffentliche Dienst unpolitischen Charakters ist;
h) daß ein öffentlicher Bediensteter, sollte er in die Bundeslegislative gewählt werden, vor Annahme der Wahl von seinem Amt bei der ihn beschäftigenden Behörde zurücktritt.

Die Militärgouverneure werden sich bei der endgültigen Prüfung des Grundgesetzes (der vorläufigen Verfassung) und etwaiger späterer Änderungen von diesen Grundsätzen leiten lassen und werden das Grundgesetz (die vorläufige Verfassung) als Ganzes betrachten, um festzustellen, ob die wesentlichen Forderungen des Dokument Nr. I. erfüllt sind oder nicht.

Erste direkte Einmischung der Militärgouverneure in die Beratungen des Parlamentarischen Rates, nachdem der erste halbwegs fertige Entwurf (Drucksache Nr. 282 des Parlamentarischen Rates) durch den Redaktionsausschuß des Parlamentarischen Rates am 16. November 1948 vorgelegt war.
 


Quellen: Die staatliche Neuordnung Deutschland, 26. Band, Dokumentenverlag Berlin 1976
E.R. Huber, Quellen zum Staatsrecht der Neuzeit, Matthiesen Tübingen 1951

© 5. Juni 2004
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