"Austrägal-Ordnung"
(heute würden diese Bestimmungen als "Schiedsgerichtsordnung" bezeichnet)

Bundesbeschluß
über die Vermittlung der Bundesversammlung bey Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich und Aufstellung einer wohlgeordneten Austrägal-Instanz

vom 16. Juni 1817

Präsidium: legt den in der letzten vertraulichen Sitzung verlesenen Entwurf Beschlusses über die Vermittlung der Bundesversammlung bey Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich, und Aufstellung einer wohlgeordneten Austrägal-Instanz zur Genehmigung vor.

Sämmtliche Stimmen waren damit einverstanden, daher

Beschluß:

Die verbündeten souverainen Fürsten und freien Städte Deutschlands haben die schon in der Wesenheit des deutschen Bundes, als eines mit einem gemeinschaftlichen Nationalbande verbundenen Staatenvereins gegründete Verpflichtung durch den XI. Artikel der Bundesacte ausdrücklich übernommen, sich unter einander unter keinerlei Vorwande zu bekriegen, noch ihre Streitigkeiten mit Gewalt zu verfolgen, sondern sie bei der Bundesversammlung anzubringen.

Zur Verfolgung dieses Bundeszweckes und zur Erfüllung der in der Bundesacte hierüber noch besonders übernommenen Pflichten hat die Bundesversammlung Folgendes festgesetzt:

I. Die Bundesversammlung ist diejenige Behörde, bei welcher alle und jede Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich anzubringen sind. Es versteht sich jedoch von selbst, daß den Bundesgliedern überlassen bleibe, auch ohne Zutritt der Bundesversammlung die gütliche Ausgleichung ihrer Streitigkeiten unter sich zu treffen, und sich einander die Austräge zu gewähren; indem die Thätigkeit der Bundesversammlung nur dann eintritt, wenn sich die Bundesglieder über einen streitigen Gegenstand auf keine Art unter sich einigen können.

II. Wenn eine Streitigkeit mit gehöriger Darstellung der Ansprüche des Beschwerde führenden Theils wirklich angebracht worden ist, so wird die Bundesversammlung vor allem die Vermittelung unter den streitenden Theilen
a) durch einen Ausschuß versuchen, welcher aus zwei und nach Befinden auch aus mehreren Bundesgesandten besteht.
Dabei wird sie nach Beschaffenheit der jedesmaligen Umstände ermessen, ob und wie fern eine Zeitfrist zur Erledigung des Vermittelungsgeschäfts von ihr vorgeschrieben werden soll. Jedem der zwistigen Theile steht es jedoch frei, bei der Bundesversammlung auf eine Fristsetzung anzutragen.
Die Bundesversammlung macht die Ernennung des Ausschusses den Parteien bekannt.
b) Der Ausschuß wird hierauf, unter Bestimmung eines kurzen Termins, von dem beklagten Theile gleichfalls eine Darstellung der Sache und seiner Einreden begehren, um in Vergleichung derselben mit der Darstellung des Klägers angemessene Vorschläge zu gütlicher Beilegung der entstandenen Streitigkeit entwerfen zu können.
c) Sodann wird derselbe einen Termin zum Versuch der Güte ansetzen, und sich bemühen, einen Vergleich zu Stande zu bringen. Bei eintretenden Schwierigkeiten wird der Ausschuß, so wie überhaupt von dem Erfolge, der Bundesversammlung Bericht erstatten.
d) Die Vergleichsurkunde wird in Urschrift, die gegenseitigen Ratifications-Urkunden aber werden in beglaubigter Abschrift in dem Bundesarchive niedergelegt, und der Bund übernimmt die Garantie des Vergleichs.

III. Wenn der Vermittelungs-Versuch bei Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich ohne Erfolg bleibt, und daher eine richterliche Entscheidung erfolgen muß, so wird vor der Hand festgesetzt, daß, um dem Bedürfnisse des Augenblicks abzuhelfen, für jeden vorkommenden Fall eine Austrägal-Instanz gebildet werde. Was aber den Vorschlag wegen Errichtung einer permanenten Austrägal-Commission betrifft, so wird derselbe nicht als aufgegeben betrachtet, sondern sich vorbehalten, nach dem Gange der Erfahrungen, welche sich bei Anwendung des gegenwärtigen Beschlusses im Laufe der Zeit ergeben dürften, den ersten Antrag in erneuerte Proposition zu bringen.

Die Art und Weise der Aufstellung der vor der Hand angenommenen, erst für jeden vorkommenden Fall zu bildenden Austrägal-Instanz wird folgendermaßen bestimmt:
1. Ausgegangen von dem Artikel XI der deutschen Bundesacte und dem würdevollen Standpuncte sämmtlicher deutschen Regierungen, kann die deutsche Bundesversammlung nur sich selbst und keine auswärtige Behörde unmittelbar als Austrägal-Instanz erkennen.
2. Wenn der zur Vermittelung der Streitigkeiten angeordnet gewesene Ausschuß die Anzeige von dem mißlungenen Versuche bei der Bundesversammlung gemacht hat, so hat binnen 4 bis 6 Wochen, von dem Tage der Anzeige an gerechnet, der Beklagte dem Kläger drei unparteiische Bundesglieder vorzuschlagen, aus welchen dieser eines binnen gleicher Frist wählet.
Geht jene Frist vorüber, ohne daß der Beklagte drei vorschlägt, so geht dieses dreifache Vorschlagsrecht an die Versammlung des Bundestags über, woraus alsdann der Kläger einen zu wählen hat.
3. Die dritte oberste Justizstelle (also die dritte Instanz) des auf eine oder die andere Art gewählten Bundesgliedes ist hiernächst als die gewählte Austrägal-Instanz zu betrachten, welche im Namen und anstatt der Bundesversammlung, so wie vermöge derselben Auftrags handelt, und die Bundesversammlung hat dem gewählten Gerichtshofe diese seine Bestimmung nicht nur bekannt zu machen, sondern ihm auch unter Mittheilung der Vergleichsverhandlungen förmlichen Auftrag zur Vollziehung der Bundesacte als Austrägal-Instanz zu ertheilen.
Sämmtliche dritte oberste Justizstellen der deutschen Bundesglieder sind sonach als solche zu betrachten, aus denen in obiger Weise die Austrägal-Instanz gewählt und sodann die bestimmt gewählte von der Bundesversammlung förmlich dazu beauftragt wird.
4. Die Übernahme des Austrägal-Auftrages von der bestimmten dritten obersten Justizstelle ist als Bundespflicht anzusehen. Nur ganz besondere, der Bundesversammlung etwa unbekannt gewesene Verhältnisse, welche eine völlige Unfähigkeit der Instanz-Übernahme enthalten, können zur Entschuldigung dienen, sind aber binnen 14 Tagen von dem Tage des erhaltenen Auftrages bei der Bundesversammlung vorzubringen.
Da nach dem Artikel XII der Bundesacte alle Staaten des Bundes künftig ein eignes oder gemeinschaftliches Gericht dritter Instanz haben müssen; so kann auch jedes Bundesglied erkohren werden, welches ein eignes oder auch nur ein gemeinsames Gericht dritter Instanz hat.
Wenn ein Bundesglied erwählt wird, in dessen Staaten mehrere Gerichte dritter Instanz bestehen, und der Kläger hat sich über die Wahl der Gerichtsstelle nicht ausgesprochen, so wird die Bundesversammlung diese Auswahl treffen.
5. Der also eintretende oberste Gerichtshof hat sodann die Angelegenheit zu instruiren; besteht derselbe aus mehreren Senaten, so hat er diese Austrägal-Sache in pleno zu verhandeln, und das Urtheil, es sey ein definitives, oder ein Zwischen-Erkenntniß, zu schöpfen. In letzterem Falle wird die Instruction bei demselben Gerichtshofe fortgesetzt. In ersterem aber wird das geschöpfte Erkenntniß vor demselben obersten Gerichtshofe ausdrücklich im Namen und aus Auftrag des Bundes den Parteien eröffnet, und der Gerichtshof überschickt demnächst dem Bundestage die Acten und das Erkenntniß, um auf dessen Befolgung halten zu können.
6. Die Instruction des Prozesses geschieht nach der Prozeß-Ordnung, welche der betreffende oberste Gerichtshof überhaupt beobachtet, und ganz in selbiger Art, wie die sonstigen alldort zu instruirenden Rechtssachen verhandelt werden.
7. Das Erkenntniß in der Hauptsache selbst aber erfolgt, in Ermangelung besonderer Entscheidungsquellen, nach den in Deutschland hergebrachten gemeinen Rechten.
8. Das Erkenntniß in der Hauptsache muß längstens binnen Jahresfrist, vom Tage der überreichten ersten Klage oder Beschwerdeschrift, erfolgen.
Sollte es ausnahmsweise nicht thunlich seyn, so hat der oberste Gerichtshof als Austrägal-Instanz einen Bericht an die Bundesversammlung zu erstatten, die Gründe eines nothwendig geglaubten längeren Verzugs anzuzeigen, und die Bewilligung oder Mißbilligung vom Bundestage zu empfangen.
9. Das Erkenntniß ist gemäß des Artikels XI der Bundesacte für die streitenden Theile verbindlich. Es wird jedoch dem Rechtsmittel der Restitution ex capite novorum statt gegeben, welches von dem Zeitpunct der aufgefundenen Novorum an, binnen vier Jahren anzubringen ist.
10. Das Restitutionsmittel ist bei der Bundesversammlung anzukündigen, und diese übersendet solches dem obersten Gerichtshofe, an welchem die Sache zum erstenmale verhandelt und entschieden ward, wo sodann über die Statthaftigkeit oder Unstatthaftigkeit des Rechtsmittels selbst gesprochen wird, und die neu zu verhandelnde Rechtsangelegenheit wieder zu instruiren und zu entscheiden ist.
11. Was übrigens die näheren Bestimmungen bei Anwendung und Ausführung dieses Rechtsmittels, den Restitutions-Eid, so wie überhaupt das ganze Austrägal-Verfahren mit Einschluß der Vollziehungs-Ordnung und des Kostenpuncts u. dgl. betrifft, so behält sich die Bundesversammlung vor, demnächst hierüber einen besondern Beschluß zu fassen.

 


Bundesbeschluß,
das bei der Aufstellung der Austrägal-Instanzen zu beobachtende Verfahren betreffend

vom 3. August 1820

Präsidium trägt vor: Die Bundesversammlung hat nicht nur bereits in der 35. Sitz. 1817 § 231 über die Vermittelung bei Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich, und Aufstellung einer wohlgeordneten Austrägal-Instanz, einen vorläufigen Beschluß gefaßt, sondern auch in der 35. Sitzung 1819 § 219, unter den Gegenständen, welche zur Instructions-Einholung und definitiven Beschlußnahme nach Wiedereröffnung der Sitzungen besonders ausgesetzt worden, als den ersten derselben diesen Gegenstand ausgezeichnet.

Die zwischen den Bevollmächtigten sämmtlicher Bundesregierungen in Wien veranlaßten Ministerial-Conferenzen haben in erfreulicher Übereinstimmung auch diese Angelegenheit ihrer Reise zugeführt, und als Resultate ihrer Berathungen sind die Grundbestimmungen darüber in der Schlußacte Artikel 21 bis 24 niedergelegt.

Da zugleich in dem Artikel 21, zu Ertheilung näherer Vorschriften in Folge der an die Bundestagsgesandten, zu erlassenden Instructionen, noch die Fassung eines besondern Beschlusses vorbehalten wurde, dessen Inhalt dieselbe verbindliche Kraft, wie die Schlußacte selbst, haben, auch eben der Art, wie diese, zum Bundesbeschluß erhoben werden soll, so bin ich von meinem allerhöchsten Hofe angewiesen, die zu diesem Ende abgefaßten, nachstehenden eilf Artikel, welche die bereits in der Schlußacte aufgenommenen ebenfalls in sich begreifen, der verehrlichten Bundesversammlung mit dem Antrage vorzulegen, daß diese Bestimmungen, in Gemäßheit der getroffenen Abrede und der von sämmtlichen Gesandschaften im Namen ihrer hohen Committenten hier abzulegenden Erklärungen, in eben der Art, wie die Schlußacte, durch gleichförmige Zustimmung zum Bundestags-Beschluß erhoben werden möchten.

Artikel 1. Die Bundesversammlung hat in allen, nach Vorschrift der Bundesacte bei ihr anzubringenden Streitigkeiten zwischen den Bundesgliedern, wenn die vorgängige Vermittelung ohne Erfolg geblieben ist, die Entscheidung durch eine Austrägal-Instanz zu veranlassen, und dabei, so lange nicht wegen der Austrägalgerichte überhaupt eine anderweite Übereinkunft statt gefunden hat, die in dem Budnestags-Beschlusse vom 16. Juni 1817 enthaltenen Vorschriften zu beobachten.

Artikel 2. Wenn nach Anleitung des Bundestags-Beschlusses vom 16. Juni 1817 der oberste Gerichtshof eines Bundesstaats zur Austrägal-Instanz gewählt ist; so steht demselben die Leitung des Prozesses und die Entscheidung des Streits, in allen seinen Haupt- und Nebenpuncten, uneingeschränkt und ohne alle weitere Einwirkung der Bundesversammlung oder der streitenden Theile, im Falle einer Zögerung von Seiten des Gerichts, die zur Beförderung der Entscheidung nöthigen Verfügungen erlassen.

Artikel 3. Zur Theilnahme an einem Rechtsstreit unter Bundesstaaten kann ein drittes Bundesglied vor das erwählte Austrägalgericht nur dann zugelassen werden, wenn das Gericht eine wesentliche Verbindung der Rechtsverhältnisse desselben mit dem anhängigen Rechtsstreit anerkennt. Auch eine Wiederklage hat nur in diesem Falle bei dem erwählten Austrägalgericht statt, und nur, wenn sie sogleich bei der Einlassung auf die Vorklage angebracht wird.

Artikel 4. Wo keine besondern Entscheidungs-Normen vorhanden sind, hat das Austrägalgericht nach den in Rechtsstreitigkeiten derselben Art vormals von den Reichsgerichten subsidiarische befolgten Rechtsquellen, in so fern solche auf die jetzigen Verhältnisse der Bundesglieder noch anwendbar sind, zu erkennen.

Artikel 5. Dem im Namen der Bundesversammlung abzufassenden Erkenntnisse sollen jederzeit die vollständigen Entscheidungsgründe beigefügt werden.

Über den Kostenpunct soll das erwählte Austrägalgericht nach gemeinrechtlichen Grundsätzen erkennen, und bei deren Bestimmung die ihm vorgeschriebene Taxordnung befolgen, ohne weitere Gebühren in Ansatz zu bringen.

Artikel 6. Die Austrägal-Erkenntnisse sind sofort nach ihrer Eröffnung als rechtskräftig anzusehen und zu befolgen. Jedoch ist die Restitution wegen neu aufgefundener Thatsachen und Beweismittel zulässig. Sie muß aber innerhalb vier Jahren, vom Tage der Auffindung an gerechnet, nachgesucht, und es kann dadurch die Vollziehung des Austrägal-Erkenntnisses nicht aufgehalten werden.

Artikel 7. Über die Zulässigkeit der Restitution und über die Erheblichkeit und rechtliche Wirkung der neu aufgefundenen Thatsachenund Beweismittel, hat derselbe Gerichtshof zu erkennen, welche die Entscheidung in der Sache gefaßt hat.

Artikel 8. Die Ableistung des Restitutions-Eides geschieht bei dem Austrägalgerichte, durch den Vorstand derjenigen Behörde, unter deren Aufsicht und Genehmigung die Restitution nachgesucht wird, und von denjenigen Beamten des die REstitution nachsuchenden Theils, welcher die Sache bearbeitet hat, entweder in Person, oder durch Special-Bevollmächtigte. Sind mehrere dabei verwendet worden; so soll dem andern Theile frei stehen, den zu benennen, welcher den Restitutions-Eid abzustatten hat.

Artikel 9. Die Bundesversammlung verfügt die Vollziehung der Budnes-Austrägal-Erkenntnisse, in so fern denselben nicht sofort oder nicht vollständig Folge geleistet wird. Fallen bei der Vollziehung noch Streitigkeiten vor, welche eine richterliche Entscheidung erfordern; so steht diese dem Austrägalgerichte zu, welches das zu vollziehende Erkenntniß gefaßt hat.

Artikel 10. Es steht übrigens den Bundesgliedern frei, für ihre Streitigkeiten sowohl in einzelnen vorkommenden Fällen, als auch für alle künftige Fälle wegen besonderer Austräge oder Compromisse übereinzukommen, wie denn auch frühere Familien- oder Vertrags-Austräge durch Errichtung der Bundes-Austrägal-Instanz nicht aufgehoben, noch abgeändert werden.

Artikel 11. Die Bundesversammlung wird, in Beziehung über das Verfahren bei Streitigkeiten der Bundesglieder unter sich, eine Revision des Bundestags-Beschlusses vom 16. Juni 1817 vornehmen, wobei jedem Bundesglied weitere zweckmäßige Ergänzungen in Antrag zu bringen überlassen bleibt.

Umfrage.

Österreich. Die Kaiserlich-Königliche Gesandtschaft hat den Auftrag erhalten, die Zustimmung und Genehmigung ihres allerhöchsten Hofes zu Protokoll zu erklären, damit die vorgelegten eilf Artikel über die Austrägal-Instanz, nach der getroffenen Verabredung, auf gleiche Weise, wie die Schlußacte selbst, zum Bundesgesetz erhoben werden mögen.

Sämmtliche übrigen Stimmen traten, wie Österreich, der Präsidial-Proposition unbedingt bei; daher

Beschluß:

Die von den Bevollmächtigten sämmtlicher Bundesstaaten in den Ministerial-Conferenzen zu wien verabredeten, in eilf Artikeln aufgezeichneten Bestimmungen über das bei Aufstellung der Austrägal-Instanzen zu beobachtende Verfahren, werden hiermit, in eben der Art, wie die Schlußacte selbst, durch gleichförmige Zustimmung zum Bundestags-Beschluß erhoben.

 


Quelle: Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Jahrgang 1817, § 231
E.R. Huber  Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte Band 1  Verlag Kohlhammer
Protokolle der Deutschen Bundesversammlung, Jahrgang 1820, S. 219

© 26. November 2000 - 27. November 2012
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