Gesetz zur Änderung und Ergänzung
der Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik
(Verfassungsgrundsätze)

vom 17. Juni 1990

In der Erkenntnis, daß in der Deutschen Demokratischen Republik im Herbst 1989 eine friedliche und demokratische Revolution stattgefunden hat, und in der Erwartung einer baldigen Herstellung der staatlichen Einheit Deutschlands wird für eine Übergangszeit die Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik um folgende Verfassungsgrundsätze ergänzt. Entgegenstehende Verfassungsgrundsätze besitzen keine Rechtsgültigkeit mehr.

Artikel 1. Freiheitliche Grundordnung. (1) Die Deutsche Demokratische Republik ist ein freiheitlicher, demokratischer, föderativer, sozialer und ökologisch orientierter Rechtsstaat. Hinsichtlich der föderativen Ordnung gilt dies nach Maßgabe einer besonderen Ergänzung der Verfassung und noch zu erlassender gesetzlicher Vorschriften. Der Staat gewährleistet die kommunale Selbstverwaltung.

(2) Vorschriften der Verfassung und sonstiger Rechtsvorschriften sind entsprechend diesem Verfassungsgesetz anzuwenden. Bestimmungen in Rechtsvorschriften, die den einzelnen oder Organe der staatlichen Gewalt auf die sozialistische Staats- und Rechtsordnung, auf das Prinzip des demokratischen Zentralismus, auf die sozialistische Gesetzlichkeit, das sozialistische Rechtsbewußtsein oder die Anschauungen einzelner Bevölkerungsgruppen oder Parteien verpflichten, sind aufgehoben.

(3) Das zuständige Gericht kann zur Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze und anderen Rechtsakte angerufen werden. Näheres regelt ein Gesetz.

Artikel 2. Eigentum. Privateigentum einschließlich des Erwerbs von Eigentum und eigentumsgleichen Rechten an Grund und Boden sowie an Produktionsmitteln wird gewährleistet. Dadurch wird die gesetzliche Zulassung besonderer Eigentumsformen für die Beteiligung der öffentlichen Hand oder anderer Rechtsträger im Wirtschaftsverkehr sowie eine rechtsstaatliche Überprüfung der bestehenden Eigentumsverhältnisse nicht berührt. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohl der Allgemeinheit und dem Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen dienen.

Artikel 3. Wirtschaftliche Handlungsfreiheit. (1) Jede natürliche und juristische Person hat das Recht, im Rahmen der Gesetze mit anderen Verträge zu schließen und sich insbesondere wirtschaftlich zu betätigen.

(2) Die Außenwirtschaft einschließlich des Außenhandels und der Valutawirtschaft darf gesetzlich geregelt, aber nicht staatlich oder anderweitig monopolisiert werden.

Artikel 4. Tarifvertragsparteien. (1) Jedermann hat das Recht, zur Wahrung und Förderung, insbesondere zur Regelung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ihnen beizutreten, aus solchen Vereinigungen auszutreten und ihnen fernzubleiben.

(2) Tariffähige Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände müssen frei gebildet, auf überbetrieblicher Grundlage organisiert und unabhängig sein sowie das Arbeitskampfrecht und das geltende Tarifrecht als verbindlich anerkennen.

Artikel 5. Unabhängige Rechtsprechung. (1) Wird jemand durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt, so steht ihm der Rechtsweg offen.

(2) Die Richter sind unabhängig und nur der Verfassung nach Maßgabe dieses Verfassungsgesetzes und dem Gesetz unterworfen. Sie unterliegen insoweit keiner Aufsicht staatlicher oder gesellschaftlicher Organe. Eine Leitung der Rechtsprechung unterer Gerichte durch obere Gerichte ist nicht zulässig.

Artikel 6. Schutz der Umwelt. Der Schutz der natürlichen Umwelt ist Pflicht des Staates und aller Bürger. Er ist durch Gesetze zu gewährleisten.

Artikel 7. Schutz der Arbeit. Die Arbeitskraft wird vom Staat geschützt. Der Staat fördert das Recht des einzelnen, durch Arbeit ein menschenwürdiges Leben in sozialer Gerechtigkeit und wirtschaftlicher Freiheit zu führen, und schafft die dazu notwendigen Rahmenbedingungen.

Artikel 8. Hoheitsrechte. Die Deutsche Demokratische Republik kann durch Verfassungsgesetz Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen und Einrichtungen der Bundesrepublik Deutschland übertragen oder in die Beschränkung von Hoheitsrechten einwilligen.

Artikel 9. Neufassung. Artikel 106 der DDR-Verfassung wird wie folgt gefaßt:
»Artikel 106. Die Verfassung kann nur von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik durch Gesetz geändert werden, das ausdrücklich als Verfassungsgesetzbezeichnet ist. Staatsverträge der Deutschen Demokratischen Republik und andere völkerrechtliche Verträge sind, soweit durch sie Verfassungsgegenstände berührt werden, durch ein ausdrücklich als Verfassungsgesetz bezeichnetes Gesetz zu bestätigen, das der Zustimmung von zwei Drittel der Mitglieder der Volkskammer bedarf.«

Artikel 10. Schlußbestimmung. Dieses Verfassungsgesetz tritt am 17. .Juni 1990 in Kraft und behält seine Gültigkeit bis zur Inkraftsetzung eines Grundgesetzes.

Das vorstehende, von der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik am siebzehnten Juni neunzehnhundertneunzig beschlossene Gesetz wird hiermit verkündet.

    Berlin, den siebzehnten Juni neunzehnhundertneunzig

Die Präsidentin der Volkskammer der Deutschen Demokratischen Republik
Bergmann-Pohl

 


Quellen: Gesetzblatt der DDR 1990 I. S. 299
DDR-Sartorius, Verwaltungsgesetze für das Gebiet der ehemaligen DDR, Verlag C.H.Beck (Stand 1994)
von Münch, Dokumente der Wiedervereinigung Deutschlands, Kröner Verlag Stuttgart 1991
© 1. Oktober 2000 - 3. April 2005


Home               Zurück             Top