Verfassungs-Verständniß.

vom 14. Juni 1843

§ I. Die Verfassungs-Urkunde Titel VII. § 3 räumt den Ständen das Willigungsrecht ein bezüglich
A. aller direkten Steuern,
B. aller neu einzuführenden, zu erhöhenden oder abzuändernden indirekten Auflagen;
und jetzt in § 4, 5 und 8 desselben Titels Folgendes fest:

I. Den Ständen wird je von 6 zu 6 Jahren ein Budget, d. h. " eine genaue Uebersicht des Staats-Bedürfnisses und der gesammten Staatseinnahmen" vorgelegt.

II. Die Stände treten nach vorgängiger Prüfung dieses Budgets über die Steuerwilligung in Berathung und willigen je für dei nächsten sechs Jahre "die zur Deckung der ordentlichen beständigen, bestimmt vorherzusehenden (vorhersehbaren) Saatsausgaben", dann zur Dotirung "des nothwendigen Reservefonds erforderlichen Steuern."

III. Ergiebt sich im Laufe der sechs Jahre ein außerordentliches unvorhergesehenes Staats-Bedürfniß, so wird dieses den Ständen "zur Willigungaußerordentlicher Auflagen" in so ferne vorgelegt, "als die bestehenden Staatseinnahmen zu dessen Deckung unzulänglich sind".

§ II. Aus diesen Verfassungsbestimmungen folgt:

I. In Absicht auf das Budget, daß dieses
A. das gesammte bestimmt vorherzusehende Staats-Bedürfniß, und
B. alle irgend zu erwartenden Staatseinnahmen vollständig und nachhaltig evident stellen muß.

II. In Absicht auf die Willigung:
daß die Stände je von 6 zu 6 Jahren nur jene Steuern zu willigen haben, welche nach ihrer Ueberzeugung erforderlich sind, um die Differenz zwischen dem Gesammt-Staats-Bedürfnisse, d. h. zwischen "dem ordentlichen beständigen, bestimmt vorherzusehenden" Staats-Bedarfe, einschlüssig des nothwendigen Reservefonds einerseits, und zwischn den von ihrer Willigung unabhängigen Deckungsmitteln andererseits auszugleichen.

III. In Absicht auf das Verfügungsrecht der Regierung, daß diese
A. aus den Staatseinnahmen nur Staats-Bedürfnisse und zwar nur solche bestreiten darf, welche entweder;
a) als ordentliche beständige, zur Zeit der Willigung bestimmt vorherzusehende à Conto des laufenden Dienstes, oder als außerordentliche, aber zur Zeit der Willigung bestimmt vorherzusehende, à Conto des Reichs-Reservefonds in das Budget eingestellt und mittelst dieses Budgets "ständischer Prüfung" unterstellt wurden, oder
b) außerordentlicher und unvorhersehbarer Weise im Laufe der Finanzperiode sich ergeben, und daß
B. Ausgaben, welche nicht den Charakter des Staats-Bedürfnisses an sich tragen, d. h. Ausgaben, welche die Erreichung des Staatszweckes nicht gebietet, resp. welche das wahre Landeswohl nicht fordert, dann Staats-Bedürfnisse, wenn weder vermöge ihrer Natur als bestimmt vorherzusehende in das budget eingestellt wurden, noch im Laufe der Finanzperiode außerordentlicher und unvorhersehbarer Weise eingetreten sind, nur kraft einer Vereinbarung zwischen Regierung und Ständen Platz greifen können.

§ III. Stimmen bei Nichteinbringung eines Finanzgesetzes die Stände mit der Regierung sowohl über Natur und Größe der "ordentlichen beständigen, bestimmt vorherzusehenden Staats-Bedürfnisse" und über den "nothwendigen" Betrag des Reservefondes, als über Natur und Voranschlag der von ihrer Willigung unabhängigen Deckungsmittel überein, so sind Differenzen weder hinsichtlich des Ziffers der zu willigenden Ergänzungssteuern, noch rücksichtlich der zu bestreitenden Ausgaben denkbar. Die Stände willigen die postulirte Steuer-Größe, und die Krone, für welche das vorgelegte Budget durch den Act der Steuerwilligung in quanto es quali obligatorisch wird, realisirt das gesammte budgetisirte Staats-Bedürfniß zusammt den gesammten, theils übereinstimmend bevoranschlagten, theils gewilligten Deckungsmitteln in gesetzgemäßer Weise.

§ IV. Sind dagegen Regierung und Stände entweder
a) in Absicht auf Natur und Größe des ordentlichen beständigen, bestimmt vorherzusehenden Staats-Bedürfnisses, oder
b) in Absicht auf Natur und Größe der von einer ständischen Willigung unabhängigen Deckungsmittel, oder
c) in beiderlei Hinsicht
abweichender Ueberzeugung, und kommt in Folge des durch Beschlüsse sich aussprechenden ständischen Beirathes keine Vereinbarung zu Stande, so willigen die Stände begreiflichermassen an ergänzenden Steuern nur die ihrer Dafürhaltens erforderliche Größe, und sofort ist zu unterscheiden zwischen
a) den in das Budget eingestellten, und
b) den in dasselbe nicht eingestellten Ausgaben.

Außerordentliche, zur Zeit der Willigung unvorhersehbare, sonach in das Budget nicht eingestellte Staats-Bedürfnisse finden in dem Reichs-Reservefonde und subsidiär in den etwaigen Ueberschüssen des Staatseinkommens auch in diesem Falle ihre gesetzliche Deckung.

Die in das Budget eingestellten Ausgaben aber können nur in so ferne realisirt werden, als sie die Natur eines zur Zeit der Willigung bestimmt "vorherzusehenden Staats-Bedürfnisses" (s. § II. Ziff. III. A. a und b) tragen, und sollten die Deckungsmittel nicht zulänglich sein, alle in das Budget eingestellten Staats-Bedürfnissen, welche auf gesetzlichen oder rechtlichen Verpflichtungen beruhen, dann jene, welche ihre gemäß ihres regiminalen Ermessens als die dringendesten erscheinen.

§ V. Die Verfassung gebietet ferner in Titel VII. § 10 "daß den Ständen bei jeder Versammlung eine genaue Nachweisung über die Verwendung des Staatseinkommens vorgelegt werde".

§ VI. Aus dieser Verfassungs-Bestimmung folgt:
I. In Absicht auf die Nachweisung selbst: Daß dieselben alle irgendwie realisirten Staatseinnahmen und alle irgendwie aus Staatsmitteln (namentlich auch in Gemäßheit des Tit. VII. § 8 der Verfassungs-Urkunde) als außerordentlich und unvorhersehbar aus Ueberschüssen des bestehenden Statseinkommens bestrittene Ausgaben genau und vollständig nachgewiesen (dokumentirt) darlegen müssen.
II. In Absicht auf die Befugnisse der Stände: Daß diese befugt sind, die Nachweisungen einer sorgfältigen Prüfung zu unterwerfen, und so ferne sie die Ueberzeugung schöpfen, es seien entweder
a) die Staatseinnahmen nicht vollständig und streng gesetzmäßig verwirklicht, oder
b) die in das Budget eingestellten ordentlichen und außerordentlichen bestimmt vorherzusehenden Staats-Bedürfnisse nicht vollständig nicht entsprechend, oder mit Ueberschreitung ihrer budgetmäßigen Größe bestritten, oder
c) sonstige nicht in die Kategorie des außerordentlichen zur Zeit der Willigung unvorhersehbaren Staats-Bedürfnisses gehörigen Ausgaben bewirkt worden,
diesen Wahrnehmungen mit allen Gegenmitteln entgegen zu treten, wozu ihre verfassungsmäßigen Willigungs-, Antrag-, Beschwerde- und Anklage-Rechte sie ermächtigen.

§ VII. Erübrigungen sind nur jene Ueberschüsse, welche sich bei Ablauf der sechsjährigen Finanzperiode nach vollständiger und entsprechender Deckung aller in das Budget eingestellten ordentlichen beständigen, bestimmt vorherzusehenden und aller im Laufe der Finanzperiode eingetretenen, zur Zeit der Willigung unvorhersehbaren nothwendigen, d. h. durch die Erreichung des Staatszweckes gebotenen resp. durch das wahre Landeswohl geforderten Staatsausgaben (Staats-Bedürfnisse) ergeben. Sie zählen von Rechtswegen gleich den Kassabeständen und Aktiven aller Art zu den Deckungsmitteln (Statseinnahmen der künftigen Periode) und müssen als solche in das Budget für diese Periode nach ihrem vollen Umfange eingestellt werden.

Die vorstehende Übereinkunft zwischen dem König, der Kammer der Reichsräte und dem Finanzausschuß der Kammer der Abgeordneten erläuterte den Titel VII. § 3 der Verfassungs-Urkunde. Die Übereinkunft war zwar kein formales Gesetz (da eine Beschlußfassung der Kammer der Abgeordneten fehlte), aber im Landtagsabschied vom 25. August 1843 wurde das Verfassungsverständnis formal sanktioniert. Es war zur Auslegung eines Teils der Verfassung, insbesondere des Steuer- und Budgetbewilligungsrechts des Landtages sehr wichtig. Durch Gesetz vom 10. Juli 1865, die Abkürzung der Finanzperioden betreffend wurde die sechsjährige Finanzperiode gekürzt auf zwei Jahre.


Quellen: Gesetzblatt für das Königreich Bayern 1843, S. 78
Hermann Rehm, Quellensammlung zum Staats- und Verwaltungsrecht des Kgr. Bayern, Verlag Hirschfeld, Leipzig 1903
©  9. Juni 2003
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